Neulich beim Kiddusch

Räitschels Rüffel

Zu Besuch in der weiten Welt. Vier Synagogen standen zur Auswahl. Welche wählt man? Orthodox, gemäßigt orthodox, konservativ oder liberal? Ach was, sagte ich mir. Orthodox kann ich immer haben, eine etablierte liberale Gemeinde dagegen eher selten. Im Internet stand etwas von »warmer Atmosphäre«, auch das Wort »herzlich« wurde verwendet. Direkt darunter waren die Mitgliederbeiträge aufgelistet. Es hat eben alles seinen Preis.

Bei den anderen Synagogen fand ich nur die Gebetszeiten. Weil ich nicht zu früh erscheinen wollte, waren die meisten Sitzplätze schon belegt, und ich musste mich durch die Reihen quetschen. Natürlich war der einzige freie Platz irgendwo in der Mitte.

Zwischen einem freundlich aussehenden Mann Ende 40 und einer Frau, die sich ihrer rechten Sitznachbarin zugewandt hatte. Lediglich der Mann nickte mir kurz und wortlos zu. Die »warme Atmosphäre« war also deutlich zu spüren. Die Frau neben mir sah mich nur an, wenn ich meinen Blick nach vorne richtete. So etwas spürt man.

Vorbeter Die ersten Sätze des Gebets wurden gesprochen. Nicht übel, der Vorbeter. Vielleicht etwas überambitioniert, aber viel verstehen konnte man sowieso nicht. Meine Sitznachbarin wandte sich nämlich wieder ihrer Freundin zu. Eine der Frauen hieß Rachel, das war nicht zu überhören. Aber nicht Rachel, wie man das normalerweise ausspricht, sondern Räitschel. Sie war auch diejenige der beiden, die die meiste Zeit sprach.

Räitschel saß direkt neben mir. Die Edelsteine an ihren Ringen verdeckten beinahe komplett ihre Finger. Deshalb musste ihre Freundin für sie Handy, Taschentücher, Schminkspiegel, Lippenstift, Kamm, Notizbuch, Eyeliner, Nagelfeile oder den kleinen digitalen Bilderrahmen aus der Handtasche fischen. Mit den Ringen hätte die Hand da überhaupt nicht hineingepasst.

Geschäfte Es wurde interessant in der Synagoge. Räitschel berichtete gerade davon, wie sie ihren Mann um ungefähr alles gebracht hatte, was er besaß. Zwischendurch lachten die beiden Frauen dreckig oder quiekten. Der arme Mann, dachte ich. Hätte zu wenig Zeit für sie gehabt, sagte Räitschel. Immer nur Geschäfte. Da hätten die Wochenendtrips nach Las Vegas oder Rio auch nicht mehr viel kitten können. Michael (also Maikäl) hätte es nicht anders verdient, pflichtete die Freundin bei.

Dann eine unerwartete Unterbrechung. Der Auftritt des Rabbiners. Er hatte wohl ein »A plus« in »salbungsvoll sprechen« erhalten. Das alte deutsche Wort »weihevoll« fiel mir ein. Ein Glück, dass Räitschels Erzählung in die nächste Runde ging und ich ohnehin nur noch sie hören konnte. Das Schma Jisrael und das Achtzehnbittengebet mussten lange vorbei sein. Vorne passierte etwas, doch der Ton von nebenan war so deutlich, dass man praktisch nichts anderes mehr hörte.

Der Skiurlaub habe ihr die Augen geöffnet, sagte Räitschel. St. Moritz sei natürlich viel, viel besser als Aspen und Enrico. Der Italourlauber hätte ihr ganz neue Pforten zu körperlicher Betätigung jenseits der Skipiste aufgetan und sei viel aufmerksamer.

Atempause Was einem so alles entgeht, wenn man von den Frauen getrennt sitzen muss, dachte ich. Vorne musste inzwischen die Toralesung gerade beendet worden sein. Eine kurze Atempause meiner Nachbarin erlaubte mir zu verstehen, dass der Rabbiner jetzt einige Ankündigungen machte. Ein perfekter Augenblick, um aufs Klo zu gehen.

Flüsternd beugte ich mich zu meinem männlichen Sitznachbarn, um ihn zu fragen, wo die Toiletten seien. Da tippte jemand an meine Schulter. Es war die erzürnte Räitschel. Ob ich keinen Respekt vor dem Ewigen hätte und gerade jetzt quasseln müsste? Auch als Gast müsse ich bestimmte Regeln befolgen. Sie deutete auf meinen Sitznachbarn. »Michael, sag das dem Mann!«

Wajischlach

Zwischen Angst und Umarmung

Die Geschichte von Jakow und Esaw zeigt, wie zwei Brüder und zwei Welten wieder zueinanderfinden

von Rabbiner Joel Berger  05.12.2025

19. Kislew

Himmlischer Freispruch

Auch wenn Rosch Haschana schon lange vorbei ist, feiern Chassidim dieser Tage ihr »Neujahr«. Für das Datum ist ausgerechnet der russische Zar verantwortlich

von Chajm Guski  05.12.2025

Talmudisches

Freundlich grüßen

Was unsere Weisen über Respekt im Alltag lehren

von Yizhak Ahren  04.12.2025

Begnadigung

Eine Frage von biblischer Tragweite

Die Tora kennt menschliche Reue, gerichtliche Milde und g’ttliche Gnade – aber keine juristische Abkürzung

von Rabbiner Raphael Evers  03.12.2025

Geschichte

Wie Regina Jonas die erste Rabbinerin wurde

Die Ordination Ende 1935 war ein Ergebnis ihres persönlichen Kampfes und ihrer Kompetenz – ein Überblick

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  03.12.2025

New York

Das sind die Rabbiner in Mamdanis Team

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat Mamdani keinen Ortodoxen in seine Übergangsausschüsse berufen – eine Lücke, die bereits im Wahlkampf sichtbar wurde

 02.12.2025

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in Frankfurt

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt einmal im Jahr zusammen

 01.12.2025 Aktualisiert

Wajeze

Aus freier Entscheidung

Wie Jakow, Rachel und Lea eine besondere Verbindung zum Ewigen aufbauten

von Paige Harouse  28.11.2025

Talmudisches

Frühstück

Was schon unsere Weisen über die »wichtigste Mahlzeit des Tages« wussten

von Detlef David Kauschke  28.11.2025