Pekudej

Ort des Gebens

Foto: Getty Images

Pekudej

Ort des Gebens

Die Tora lehrt, warum »das jüdische Haus« von so grundlegender Bedeutung ist

von Rabbiner Bryan Weisz  15.03.2024 08:56 Uhr

In den vergangenen Jahren ist die kleine Stadt Kerestir im Osten Ungarns zum Mittelpunkt einer alljährlichen Pilgerreise geworden. Tausende Anhänger und Nachkommen von Reb Shayaʼle von Kerestir, des berühmten Rabbiners Jaschaja Steiner (1851–1923), besuchen jedes Jahr seine ehemalige Heimat.

Was interessiert so viele Menschen an einem alten Haus in Ungarn?

Zu seinen Lebzeiten war Reb Shayaʼle für seine außerordentliche Gastfreundschaft und Großzügigkeit bekannt. Nichts war ihm wichtiger, als für die Armen und Hungrigen zu sorgen. Obwohl er Rabbiner war, sah er seine größte Aufgabe darin, ein Gästehaus zu führen. Gäste erfüllten sein Herz und sein Zuhause.

Was wir von zu Hause lernen können, welche wichtigen Werte und Lektionen, davon erfahren wir in unserem Wochenabschnitt.

Es fällt auf, dass am Ende des Buches Schemot (2. Buch Mose), anders als wenn sonst in der Tora von der jüdischen Nation die Rede ist, nicht von »Israel«, sondern vom »Haus Israel« (Beit Jisrael) gesprochen wird: »Denn die Wolke des Ewigen war über dem Mischkan (dem Stiftszelt) bei Tag, und bei Nacht war Feuer darauf, vor den Augen des ganzen Hauses Israel während ihrer Reisen« (2. Buch Mose 40,38).

Am Ende aller anderen Bücher der Tora werden die Israeliten nicht wie hier als »Haus« bezeichnet, sondern als »Kinder Israels« oder lediglich als »Israel«. Warum aber werden sie am Ende des zweiten Buches der Tora »Haus Israels« genannt?

Das 1. Buch Mose schildert die Geschichte Jakows und seiner Söhne, doch erst am Ende des 2. Buches Mose, am Ende des Auszugs, wurden die Juden zu einer Nation. Sie waren aus der Sklaverei in Ägypten befreit worden und zogen nun durch die Wüste, lagerten rund um den Mischkan, das Stiftszelt, mit der Tora. Sie waren ein wanderndes Volk.

Die Nation ist keine Nation von Individuen, sondern eine Nation von Häusern. Im gesamten Buch Schemot liegt der Schwerpunkt auf dem »Bajit«, dem Zuhause. So heißt es gleich zu Beginn des Exodus im ersten Satz, wo davon berichtet wird, wie die Stämme nach Ägypten kamen: »Mit Jakow kam jeder Mann und sein Haus« (2. Buch Mose 1,1). Und als beim Auszug aus Ägypten das Pessachopfer dargebracht wurde, lesen wir von dem Gebot, dass »jedes Haus« ein Lamm als Opfer darbringen soll: »Se la bajit« (2. Buch Mose 12,3).

Die Stärke des jüdischen Volkes besteht nicht aus Einzelpersonen, sondern aus Haushalten

Unsere Häuser sind sehr wertvoll, sie definieren die Stärke des jüdischen Volkes, einer Nation, die nicht aus Einzelpersonen, sondern aus Haushalten besteht. Daher lesen wir auf dem Höhepunkt des Buches Schemot, das von der Entstehung des jüdischen Volkes berichtet, von dieser Idee des »Beit Jisrael«, des Hauses Israel – ja von unseren heiligen Häusern.

In seinem Kommentar zum Wochenabschnitt Ki Teze erläutert Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) die Bedeutung des jüdischen Zuhauses: Er erklärt, warum ein frisch verheirateter Soldat im ersten Jahr seiner Ehe vom Kriegsdienst befreit ist.

Normalerweise hat ein Gebot, das sich auf die ganze Nation auswirkt, Vorrang vor einem persönlichen Gebot. Warum aber ist ein frisch verheirateter Soldat von der Teilnahme am Krieg befreit? Sollte der Krieg, der die ganze Nation betrifft, nicht über der Verpflichtung des Bräutigams stehen, mit seiner Frau zusammen zu sein?

Rabbiner Hirsch antwortet, das Zuhause sei von grundlegender Bedeutung. Es sei ein Ort des Gebens. Dort könne ein Ehemann lernen, seine Ehefrau über sich selbst zu stellen, und eine Ehefrau könne lernen, ihren Ehemann über sich selbst zu stellen. Sie bauen ein Fundament, das sich positiv auf die Gesellschaft auswirkt. Weil dieses Gebot weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft hat, ist der frisch verheiratete Soldat im ersten Ehejahr vom Militärdienst befreit.

Das Gebot, zu Hause zu bleiben, ist kein persönliches Gebot. Ohne das Zuhause gäbe es keine Gesellschaft. Das Volk Israel besteht nicht aus Einzelpersonen, sondern aus Häusern, Haushalten.

Unser Fundament sind unsere Häuser, und deshalb endet das 2. Buch Mose, das die Grundbausteine des jüdischen Volkes aufzeichnet, mit dem Begriff »Haus Israel«, um das jüdische Volk als ein Volk zu beschreiben, das sich umeinander kümmert.

Das 2. Buch Mose zeichnet die Grundbausteine des jüdischen Volkes auf

Dieses Konzept hat Reb Shayaʼle vor mehr als 100 Jahren verstanden. Ein Zuhause ist ein Ort, an dem die Interessen anderer und nicht nur unsere eigenen wichtig sind. Reb Shayaʼle gab sein Herz den Menschen hin, das war die geheime Kraft seines Zuhauses, er gab sein Wesen für das Wohlergehen anderer hin, indem er ihnen sein Herz schenkte.

Wir alle haben die Fähigkeit, anderen unser Herz zu schenken. Wir können dies tun, indem wir etwas nehmen, das für uns wertvoll ist, ja Teil unseres Wesens und Seins, und statt nur an unsere eigenen Bedürfnisse zu denken, uns um die anderen um uns herum kümmern.

Die ultimative Lektion, andere über sich selbst zu stellen, lernen wir zu Hause von unseren Geschwistern, Ehepartnern, Kindern und Freunden. Wenn wir verstehen, wie wichtig es ist, andere über uns selbst zu stellen, dann gibt es eine Nation, die sich umeinander kümmert, ein Zuhause für alle Juden – das Haus Israel.

Der Autor ist Rabbiner in London.

inhalt
Der Wochenabschnitt Pekudej ist der letzte des Buches Schemot. Er berichtet von der Berechnung der Stoffe, die für das Stiftszelt verarbeitet werden, und wiederholt die Anweisungen, wie die Priesterkleidung anzufertigen ist. Die Arbeiten am Mischkan werden vollendet. Danach werden die Priester und Teile des Stiftszelts gesalbt. Als dies alles vollendet ist, erscheint über dem Heiligtum eine »Wolke des Ewigen«. Sie zeigt dem Volk die Gegenwart des Ewigen und wird ein Zeichen sein, wann es aufbrechen und weiterziehen soll.
2. Buch Mose 38,21 – 40,38

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025