Lektion

Oh, wie verführerisch

Sehnsuchtsort der alten Israeliten: Ägypten – Hochkultur mit Aufstiegschancen für Zuwanderer Foto: imago

Als im 19. Jahrhundert die große Auswanderung der Europäer in die USA begann, verfielen auch viele Juden der Idee, in das neue Land, die »Goldene Medine« auszuwandern und dort ihr Glück zu suchen. Aus dieser Zeit stammt der Begriff »Selfmademan«. Er beschreibt eine Person, die den sozialen Aufstieg von ganz unten nach ganz oben schafft – der Inbegriff des amerikanischen Traums: vom Tellerwäscher zum Millionär. Doch nur ganz wenigen ist es gelungen, diesen Traum zu verwirklichen, denn es bedarf vieler Faktoren: Fleiß, Durchsetzungsvermögen und oft auch eine große Portion Glück.

Den Wochenabschnitt Mikez kann man als eine Art »ägyptischen Traum« betrachten. Träume haben hier eine entscheidende Bedeutung und führen letztendlich dazu, dass Josef den Aufstieg von ganz unten nach ganz oben schafft. Doch der Reihe nach. Der Wochenabschnitt, den wir am vergangenen Schabbat gelesen haben, endet damit, dass Josef im Gefängnis seinen Zellengenossen die Träume deutet und ihnen damit die Zukunft voraussagt.

Erfolg Josefs Geschichte ist eine Erfolgsstory: Er wird im richtigen Moment bei der richtigen Person erwähnt und erhält die Möglichkeit, sein Können unter Beweis zu stellen. Seine Kunst der Traumdeutung scheint beim Pharao sehr gut anzukommen. So wird der Sklave Josef, der gerade noch im Kerker saß und dessen Zukunft nicht rosig aussah, innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mann im Staat.

Seine Brüder hatten ihn wegen seiner Träume gehasst – nun verehren ihn Fremde dafür, wie er Träume deuten kann. Von einem Sklaven und Gefangenen, ohne Rechte und ohne Schutz, steigt er auf nach ganz oben. »Siehe, ich setze dich über das ganze Land Mizrajim«, sagt Pharao zu ihm (1. Buch Moses 41,41). So regiert Josef von nun an ein Land, in dem er eigentlich ein Fremder ist, nach seinen eigenen Vorstellungen. Die Geschichte scheint perfekt zu sein, ein beispielhafter gesellschaftlicher Aufstieg!

Doch für einen Sprung auf der Karriereleiter muss man einen Preis zahlen. Auch Josef. Bei ihm heißt der Preis: Assimilation. Mit 30 Jahren ist er zwar ein gemachter Mann, aber so weit wie nie zuvor von seiner Familie, Heimat und den eigenen Wurzeln entfernt.

Erfüllung Es scheint, dass Josef an seinem neuen Leben Gefallen findet: Er ist der zweite Mann im Staat, trägt ein seidenes Gewand, eine goldene Kette, und er fährt einen großen Wagen. Er ist ein Ägypter durch und durch. Für ihn ist offenbar ein Traum in Erfüllung gegangen. Er, der Träumer, der Lieblingssohn seinen Vaters und das Hassobjekt seiner Brüder, träumt nicht mehr selbst, sondern ist zum Traumdeuter geworden.

Aber Josef möchte nicht Pharaos Hofjude sein, sondern er tut alles, um ein echter Ägypter zu werden. Ohne den geringsten Widerstand nimmt er den ägyptischen Namen Zafenat-Paneach an, und auch die Hochzeit mit der Tochter des Priesters Potefar scheint zu Josefs Plan zu gehören. Er ist bereit, völlig in dieser Welt aufzugehen. Auch der Name seines Sohnes Menasche, der von dem Verb nascha (deutsch: vergessen, 1. Buch Moses 41,51) abstammt, deutet darauf hin, dass Josef alles daran setzt, mit seiner jüdischen Vergangenheit zu brechen. Zu tief und stark waren die Kränkungen, die ihm seine Brüder angetan haben. Viel Zeit ist seitdem vergangen, und es scheint kein Zurück mehr zu geben. Josef ist nicht mehr Josef, er ist nicht mehr ein Sohn Israels, sondern ein Sohn Ägyptens.

Bruch Josef scheint der erste verlorene Sohn des jüdischen Volkes zu werden, der erste, der sich von seiner Religion abwendet und mit der Tradition seiner Väter bricht. Vor allem in der heutigen Zeit sehen wir viele solcher Beispiele, in denen Menschen, die einen hohen gesellschaftlichen Rang erreicht haben, mit ihrem Judentum brechen. Sie finden Zugang in die Gesellschaft und lösen sich in ihr auf, vergessen ihre Herkunft, ihren Glauben und ihre Identität.

In Josefs Fall wendet sich die Geschichte zum Guten. Es ist göttliche Fügung, dass seine Brüder wegen einer Hungersnot in Kanaan nach Ägypten ziehen, um ihre Vorräte aufzubessern, und dort auf ihren verlorenen Bruder treffen. Typisch für eine Geschichte mit Happy End offenbart sich Josef seiner Familie erst nach langem Zögern.

Es ist schwer vorzustellen, was in ihm vorging, welche Fragen er sich stellte und was ihn letztendlich dazu brachte, sich mit seinen Brüdern wieder zu vereinen. Josef wird wieder Jude, er kommt zu seinem Stamm, zu seinem Volk zurück. Das machen vor allem die letzten Zeilen des Buches Bereschit klar, in denen Josef darum bittet, seine Gebeine nach dem Tod zurück in die Heimat zu bringen (50,25).

Und so ist es kein Zufall, dass der Wochenabschnitt Mikez immer mit Chanukka in Verbindung steht. Beide Ereignisse liegen mehr als 1.500 Jahre auseinander. Aber in beiden Fällen spielt die Frage der Assimilation eine zentrale Rolle. Es ist nicht nur Josef in Ägypten, sondern im zweiten Jahrhundert v.d.Z. schließen sich die ganze jüdische Oberschicht und die Mehrheit der Bevölkerung der griechischen Kultur und Religion an und verlassen damit das Judentum. Nur eine kleine Minderheit widersetzt sich und rettet das jüdische Volk vor der vollständigen Auflösung. Und so lesen wir an Chanukka die Geschichte des ersten assimilierten Juden und wie er zu seinem Volk zurückkehrte – eine Mahnung an kommende Generationen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Mikez erzählt von Träumen des Pharaos, die niemand an seinem Hof deuten kann – außer Josef. Er sagt voraus, dass nach sieben üppigen Jahren sieben Jahre der Dürre kommen und empfiehlt Pharao, Vorräte anzulegen. Der Herrscher betraut ihn mit dieser Aufgabe. Josef heiratet Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters. Sie bringt die gemeinsamen Söhne Efraim und Menasche zur Welt. Dann kommen wegen der Dürre in Kanaan Josefs Brüder nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen. Josef wirft ihnen vor, sie seien Kundschafter. Er hält Schimon fest, während sie Benjamin holen sollen. Als die Brüder nach Ägypten zurückkehren, klagt er sie des Diebstahls an und hält Benjamin fest.
1. Buch Moses 41,1 – 44,17

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  16.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025