Chol Hamoed

Nur Mosche kannte die Freiheit

Charlton Heston als Moses in dem Monumentalfilm »Die zehn Gebote« (USA 1956) Foto: picture alliance / Mary Evans/AF Archive/ Bildarchi

Chol Hamoed

Nur Mosche kannte die Freiheit

Warum das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten ängstlich war

von Rabbinerin Yael Deusel  17.04.2025 14:40 Uhr

»Und es geschah, als der Pharao das Volk ziehen ließ« – das klingt fast so, als hätte er die Benej Jisrael lediglich nicht am Weggehen gehindert, wobei er sie tatsächlich aus dem Land gewiesen hatte. Und völlig überstürzt waren sie aufgebrochen, eine große Anzahl an Menschen, zusammen mit ihrer beweglichen Habe. Wohl hatten sie sich zuvor noch die Zeit genommen, Gold, Silber und Kleider von ihren ägyptischen Nachbarn mitzunehmen, aber an Reiseproviant hatten sie offenbar nicht gedacht.

Und nun sind sie unterwegs, ein paar Tage erst. Es ist nicht der kürzeste Weg, den sie vom Ewigen geführt werden, denn die Karawanen- und Heeresstraße entlang der Küstenebene als direkte Verbindung zwischen Ägypten und Kanaan ist gefährlich. Zwar hätten sie für diesen Weg nur etwa zehn Tage gebraucht, doch hätten sie dabei das Land der Plischtim durchqueren müssen.

Was hätten die Benej Jisrael als ungeübte Kämpfer den Streitwagen des Pharaos entgegensetzen können?

Der wichtigere Grund war aber sicherlich, dass sie das Heer des Pharaos hier vermutlich umso schneller eingeholt hätte, ohne dass ihnen ein Ausweg geblieben wäre. Kämpferisch hätten sie es mit den ägyptischen Soldaten wohl nicht aufnehmen können, wenngleich die Benej Jisrael »gerüstet« (chamuschim), also vermutlich bewaffnet waren.

Die Bedeutung des Wortes ist zwar umstritten, aber die meisten Ausleger folgen hier dem Targum Onkelos, und der frühere britische Oberrabbiner Joseph H. Hertz (1872–1946) verweist in seinem Kommentar auf das ägyptische Wort Chams, das Lanze bedeutet. Und doch, was hätten die Benej Jisrael als ungeübte Kämpfer, zu Fuß unterwegs, mit Frauen und Kindern, den Streitwagen des Pharaos entgegensetzen können?

Sie gingen Tag und Nacht, geführt von der Wolken- und Feuersäule, die ihnen auch im Dunkeln den Weg beleuchtete, wenn sie die nächtliche Kühle nutzten, um möglichst schnell vorwärtszukommen. Ob sie geahnt haben, dass der Pharao ihnen mit seinen Wagenkämpfern nachsetzen würde? Spätestens am Ufer des Schilfmeeres wird ihnen endgültig klar, dass es noch nicht vorbei ist, und Todesangst ergreift sie.

Mosche ist schuld – hätten sie doch bloß nicht auf ihn gehört!

Wer ist schuld? Mosche natürlich, ach, hätten sie doch bloß nicht auf ihn gehört! Haben sie es nicht gleich gewusst, haben sie denn nicht zu ihm gesagt, es sei besser für sie, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben? Die Kinder Israels haben offenbar in der kurzen Zeit schon vergessen, wie sie zum Ewigen geschrien hatten um Hilfe und Errettung aus der Sklaverei. Wie hatten sie sich diese Befreiung denn vorgestellt – ja, welche Vorstellung von »Freiheit« hatten sie überhaupt? Vielleicht gar keine. Der Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900–1980) schrieb: »Der versklavte Mensch hat keine Vorstellung von der Freiheit – gleichzeitig kann er aber auch nicht frei werden, bevor er eine Vorstellung von der Freiheit hat.«

Nicht von ungefähr ist es Mosche, der das Volk in die Freiheit führt, ein Mann, der einst als Prinz aufgewachsen ist und weiß, was Freiheit bedeutet. Die Benej Jisrael aber, die er anführt, haben die Sklaverei so verinnerlicht, dass sie den Kampf mit den Schwierigkeiten des freien Lebens kaum aufnehmen wollen. Das wird sich auf dem langen Weg durch die Wüste immer wieder zeigen.

Doch noch stehen sie am Schilfmeer, vor ihnen das Wasser, hinter ihnen die ägyptische Streitmacht. Was jetzt in ihnen vorgehen mag, können wir leicht daran erahnen, was sie Mosche in ihrer Verzweiflung entgegenschreien. Mosche könnte ihnen nun erwidern, sie sollten sich an die Plagen erinnern, mit denen der Ewige Ägypten geschlagen hat. Er könnte ihnen all die Wunder ins Gedächtnis rufen, die sie doch mit eigenen Augen gesehen haben. Er tut es aber nicht.

Davon abgesehen, dass er kein Mann der Worte ist, bleibt in dieser Situation auch gar keine Zeit für große Reden. So sagt er ihnen nur: Fürchtet euch nicht, der Ewige wird euch beistehen, ve-atem tacharischun – und ihr seid nun still.

Mosche vertraut dem Ewigen und erhebt seinen Stab

Mosche selbst ist wohl aber nicht still, denn der nächste Vers besagt, dass der Ewige ihm mitteilt, jetzt wäre nicht der Moment, zu Ihm zu schreien, also flehentlich zu beten, sondern es ist die Zeit zu handeln. Mosche vertraut dem Ewigen, und er erhebt seinen Stab und streckt ihn gegen das Meer hin aus.

Das Wunder geschieht, und die Benej Jisrael ziehen durch das Schilfmeer auf dem Weg, den der Ewige ihnen bahnt durch die Teilung der Wassermassen. Sie sind zu Fuß unterwegs, daher kommen sie hier sehr viel besser voran als die Männer auf den Streitwagen des Pharaos, die erst mit den Rädern im Schlamm stecken bleiben und dann im zurückflutenden Wasser ertrinken. Die Streitmacht des Pharaos ist vernichtet.

Ob auch der Pharao umgekommen ist, bleibt offen. Doch selbst, wenn er es überlebt hat, kann er ohne seine Kämpfer den Benej Jisrael nichts mehr anhaben. Diese letzte, elfte Plage bringt den Israeliten nun endgültig die Freiheit.

Überglücklich singen sie von ihrer wunderbaren Errettung

Sie jubeln, singen und tanzen, dort am Ufer des Schilfmeeres, und wer könnte es ihnen verdenken? Überglücklich singen sie von ihrer wunderbaren Errettung, und sie preisen den Ewigen überschwänglich. Der Ewige verwehrt ihnen diese Freude nicht, wohl aber den Engeln, die in dem Moment ebenfalls ein Preislied anstimmen wollen. »Meine Geschöpfe ertrinken, und ihr wollt singen?« So besagt der Talmud, und man könnte meinen, die Engel wollten ein Jubellied wegen der wunderbaren Rettung der Benej Jisrael singen.

Aber stimmt das wirklich? Man kann die Aussage von Rabbi Jochanan (Megilla 10b) auch so verstehen, dass die Engel eigentlich gerade ihre gewohnten Gesänge anstimmen wollten, nicht wegen, sondern trotz der dramatischen Ereignisse am Schilfmeer. Der Tadel des Ewigen läge dann darin, dass sie ihre tägliche Routine aufnehmen, als wäre nichts geschehen, gleichgültig gegenüber der Not der Ägypter, die doch ebenso Kinder des Ewigen sind, geschaffen in Seinem Bild.

Ein starker Gedanke und eine eindrückliche Ermahnung, dankbar zu sein für die Errettung, aber gleichzeitig angesichts menschlicher Not durch Terror, Krieg und Gewalt nicht gleichgültig zu bleiben. Selbst einem Feind gegenüber.

Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

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