Zivilcourage

Nicht jeder muss ein Held sein

Der Held aus Mali: Lassana Bathily wurde am 20. Januar in Paris die französische Staatsbürgerschaft verliehen. Foto: dpa

Zivilcourage

Nicht jeder muss ein Held sein

Das Judentum verpflichtet zur Lebensrettung – aber nicht um jeden Preis

von Rabbiner Avraham Radbil  03.02.2015 18:45 Uhr

Die Anschläge in Paris haben die ganze Welt erschüttert. Wir sind wieder einmal Zeugen davon geworden, wie grausam und skrupellos Menschen sein können. Doch es gibt auch einen Lichtblick in diesen schrecklichen Ereignissen. Die Geschichte hat einen Helden hervorgebracht, nämlich Lassana Bathily, den muslimischen Mitarbeiter des überfallenen koscheren Supermarktes Hyper Cacher. Er riskierte sein eigenes Leben, um 15 andere Menschenleben zu retten.

Bathily zeigte der Welt, dass Menschen nicht nur brutal und erbarmungslos, sondern auch mitfühlend und selbstlos sein können. Als Anerkennung für seine Tat wurde ihm die französische Staatsbürgerschaft verliehen.

Gesellschaft Aber war die Tat Bathilys wirklich so heldenhaft? Sollten wir nicht von jedem Menschen erwarten, dass er sich dazu verpflichtet fühlt, einem anderen Menschen das Leben zu retten, wenn er die Möglichkeit dazu hat? Unterlassene Hilfeleistung wird strafrechtlich verfolgt. Das zeigt, dass wir als Gesellschaft ein gewisses Maß an Courage von jedem Einzelnen von uns erwarten müssen.

Wie weit muss man also gehen, um einen anderen Menschen zu retten? Geht es hierbei nur um eine überschaubare Anstrengung – wie zum Beispiel, die Polizei oder einen Krankenwagen zu rufen –, oder muss man selbst einschreiten und eigene Mittel dafür ausgeben, um das Leben eines anderen zu bewahren? Muss man sich auch in potenzielle Lebensgefahr begeben?

Der Fall von Tugce Albayrak aus Offenbach zeigte der Welt, wie uneigennützig, couragiert und mutig eine junge Frau auftreten kann. Ihre Tat zeigte aber auch, dass ein solch selbstloser Einsatz für den Retter oder die Retterin unter Umständen tödlich endet.

Pflicht Hat man also die Pflicht, sein eigenes Leben zu riskieren, um ein anderes Leben zu retten, oder geht unser eigenes Leben immer vor? Was sagt das Judentum, was sagen unsere Weisen dazu?

Der Talmud fragt im Traktat Sanhedrin 73a: »Woher wissen wir, dass, wenn jemand seinen Nächsten in einem Fluss ertrinken sieht, wie ein wildes Tier ihn wegschleppt oder wie Räuber ihn überfallen, er dazu verpflichtet ist, den anderen zu retten? Weil die Tora sagt: ›Du sollst nicht neben dem Blute deines Nächsten stehen‹« (3. Buch Mose 19,16).

Indem der Talmud fragt: »Woher wissen wir …?«, geht er bereits von einer gewissen Verpflichtung für jeden Einzelnen von uns aus, das Leben eines anderen zu retten. Diese These wird durch den obenstehenden Vers aus der Tora bekräftigt. Falls jemand also die Möglichkeit hat, das Leben eines anderen zu retten, und dies nicht tut, übertritt er ein direktes Toragebot.

Die Logik hinter diesem Gebot finden wir ebenfalls im Traktat Sanhedrin 73a, wo steht, dass der erste Mensch alleine erschaffen wurde, um uns zu lehren, dass jemand die ganze Welt zerstört, wenn er ein Menschenleben zerstört. Doch wenn jemand ein Menschenleben rettet, rettet er die ganze Welt. Denn die ganze Menschheit stammt von nur einem einzigen Menschen ab.

Körper Doch der Talmud fährt in Sanhedrin 73 fort und hinterfragt noch einmal die Tatsache, dass wir dieses Gebot aus dem Vers im 3. Buch Mose 19,16 ableiten. Und in einer anderen Talmudstelle, in Bawa Kama 81b, steht: »Woher wissen wir, dass man den Körper einer Person zurückgeben soll?« Das bezieht sich auf den Fall, dass jemand gerade dabei ist, seinen Körper zu verlieren: »Denn es steht: ›Du sollst ihm zurückgeben‹« (5. Buch Mose 22,2). Aus diesem Satz in der Tora folgern unsere Weisen, dass man einem Besitzer nicht nur einen verlorenen Gegenstand zurückgeben muss, sondern auch seinen Körper.

Nun haben wir zwei Toraverse, die uns eigentlich dasselbe nahelegen wollen. Daraus schließen wir, dass uns ein Vers das lehren muss, was für uns aus dem anderen alleine nicht ersichtlich wäre. In diesem Sinn fährt der Talmud fort und führt aus, dass der Vers aus dem 5. Buch Mose uns sagt: Ein Einzelner ist verpflichtet, den Betroffenen auch alleine zu retten, insofern er dazu in der Lage ist. Der Vers aus dem 3. Buch Mose 19,16 lehrt uns dagegen, dass ein Einzelner, falls er den Betroffenen nicht alleine aus der Gefahr retten kann, sich bemühen muss, Helfer zu finden.

Ertrinken Falls man also bei einem Spaziergang entdeckt, dass jemand gerade dabei ist, zu ertrinken, muss er helfen – denn die Tora sagt: »Du sollst ihm (seinen Körper) zurückgeben.« Doch was ist, wenn man nicht schwimmen kann? Darf man in diesem Fall weiterlaufen? »Nein«, sagt die Tora: »Du sollst nicht neben dem Blute deines Nächsten stehen.« Also muss man nach Mithelfern suchen.

So entscheidet auch der Schulchan Aruch in Choschen Mischpat 426,1: »Wenn jemand sieht, wie ein anderer ertrinkt, oder wie Räuber oder wilde Tiere sein Leben bedrohen, und derjenige die Möglichkeit hat, den Menschen in Gefahr selbst zu retten oder einen anderen damit zu beauftragen, und dieses nicht tut; oder wenn jemand merkt, dass Nichtjuden oder Verleumder etwas Böses gegen einen anderen planen, und ihn nicht davor warnt; oder wenn jemand weiß, dass ein Gewaltbereiter seinem Nächsten schaden möchte, und die Möglichkeit hat, diesen Menschen zu besänftigen, dieses aber nicht tut: Diese alle übertreten das Toraverbot: ›Du sollst nicht neben dem Blute deines nächsten stehen.‹«

Kidnapping
Nun kommen wir zurück zu der Frage, die sich viele nach der Rettungstat Bathilys gestellt haben, nämlich: Muss man sich potenziell in Lebensgefahr bringen, um einem anderen das Leben zu retten? Es gibt dazu eine berühmte Stelle im Talmud Jeruschalmi, Trumot 47a. Dort wird erzählt, dass Rabbi Ami gekidnappt wurde. Rabbi Jonathan sagte, es bestehe keine Hoffnung auf seine Rettung. Doch Rabbi Schimon ben Lakisch sagte: »Entweder werde ich töten, oder ich werde getötet.« Mit diesen Worten begab er sich auf seine Mission und rettete Rabbi Ami.

Was können wir aus dieser Talmudstelle lernen? Rabbi Schimon ben Lakisch riskierte sein Leben, um das Leben von Rabbi Ami zu retten. Obwohl Rabbi Jonathan selbst nicht dazu bereit war, sagte er auch nicht, dass Rabbi Schimon gegen die Halacha verstoßen hat.

Einige Kommentatoren wie Hagaot Maimoniot versteht diese Stelle so, dass der Talmud Jeruschalmi es als Gesetz darstellen möchte, dass man sich wie Rabbi Schimon ben Lakisch in potenzielle Gefahr begeben muss, um einen anderen zu retten. Den Grund dafür erklärt Kessef Mischna damit, dass der Gefährdete sich definitiv in Gefahr befindet, wobei der Retter sich »nur« in potenzielle Gefahr begibt. Die definitive Gefahr ist also höher zu gewichten als die potenzielle Gefahr.

Halacha Doch der Talmud Bawli, dem wir in der Regel folgen, scheint hier anderer Auffassung zu sein. Also besteht aus halachischer Sicht keine Pflicht, sich in potenzielle Lebensgefahr zu begeben, um einen anderen Menschen zu retten.

Meschech Chochma leitet dies auch aus einer anderen Stelle in der Tora ab, nämlich als Mosche gesagt wird: »Kehre nach Ägypten zurück, denn alle, die dich zu töten versucht haben, sind tot« (2. Buch Mose 4,19). Daraus zieht Meschech Chochma die Schlussfolgerung, dass Mosche nicht nach Ägypten zu gehen bräuchte, falls seine Verfolger noch leben sollten – obwohl sich das jüdische Volk in Gefahr befand und sehnsüchtig auf Mosche und die Errettung wartete. Doch sobald die Lebensgefahr für Mosche vorüber war, war er verpflichtet, nach Ägypten zu gehen.

Strafe Eine andere berühmte Response von Radvaz diskutiert einen Fall, in dem ein Jude in der Türkei zur Zeit des Osmanischen Reichs wegen Diebstahl verurteilt wurde. Als Strafe sollte ihm die Hand abgehackt werden. Um dieser Strafe zu entkommen, flüchtete der Jude nach Ägypten.

Der türkische Sultan nahm daraufhin einen anderen Juden gefangen und schickte dem geflohenen Juden eine Botschaft: Sollte er aus Ägypten zurückkommen und die Strafe auf sich nehmen, würde der Sultan den gefangenen Juden freilassen. Falls nicht, würde der gefangene Jude getötet.

Organspende Der Flüchtling wandte sich an Rabbiner David ben Zimri (Radvaz) mit der Frage, ob er seine Hand opfern müsse, um das Leben eines anderen zu retten. Diese Response wird auch oft im Zusammenhalt mit der Organspende zitiert, bei der es ebenfalls um Lebensrettung geht. Radvaz kommt zu dem Schluss, dass die Tora nicht verlangen kann, so weit zu gehen. Es wäre aber sehr lobenswert und als »Kiddusch Haschem« (Heiligung des G’ttesnamens) zu werten, falls der Flüchtling es doch tun würde.

Aus halachischer Sicht hätte also keine Pflicht für Lassana Bathily bestanden, sein Leben zu riskieren. Dennoch war seine Tat in jeder Hinsicht heldenhaft. Bathily rettete 15 andere »Welten« und bewies damit, wie sich Menschen unabhängig von Herkunft, Ansicht oder Religion füreinander einsetzen können. Er selbst sagte im Nachhinein: »Hier geht es nicht um Juden, Christen oder Muslime. Wir sitzen alle im selben Boot.«

Dieser Text darf nur als eine Einführung in ein sehr komplexes Themengebiet betrachtet werden. Es gibt zahlreiche weitere Quellen, die hier leider aus Platzmangel nicht aufgeführt werden konnten. Möge keiner von uns in Situationen kommen, in denen wir solche Entscheidungen treffen müssen! Wir müssen uns aber mit diesen Themen auseinandersetzen, um für den Fall der Fälle vorbereitet zu sein.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).

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