An Schawuot feiern wir die Gabe der Tora am Berg Sinai, eines der zentralen Ereignisse der Geschichte des jüdischen Volkes. Um dieses besondere Geschehen zu würdigen, hat sich die Tradition entwickelt, die Nacht von Schawuot dem Lernen zu widmen. Bis in die frühen Morgenstunden wird gemeinsam gelernt und diskutiert, als Ausdruck von Hingabe und Vorbereitung auf die Tora. Am frühen Morgen werden dann im Gottesdienst, in der Toralesung, die Zehn Gebote vorgelesen und damit daran erinnert, dass sie uns gegeben wurden.
Im Wochenabschnitt Emor lesen wir über Schawuot: »Bis zum anderen Tag nach der siebten Woche sollt ihr 50 Tage zählen und ein Speiseopfer vom neuen Getreide dem Ewigen darbringen« (3. Buch Mose 23,16). Es folgen konkrete Opfergebote, darunter die Darbringung zweier gesäuerter Brote als Erstlingsgabe, begleitet von Tieropfern. Der Tag wird als heiliger Feiertag für alle Generationen bezeichnet, ein Ruhetag ohne Arbeit. Besonders bemerkenswert ist, dass dieser Abschnitt mit dem sozialen Gebot endet, bei der Ernte die Ränder des Feldes nicht vollständig abzuernten, sondern den Armen und Fremden ihren Teil zu lassen. Auch inmitten religiöser Rituale bleibt also Platz für soziale Gerechtigkeit.
Ein Midrasch erklärt die Praxis der Lernnacht damit, dass das Volk Israel in der Nacht vor der Offenbarung schlief, obwohl der Ewige angekündigt hatte, am dritten Tag vor den Augen des Volkes zu erscheinen (2. Buch Mose 19,11). Im Midrasch Schir HaSchirim Rabba (1,12) heißt es: »Der Ewige, gesegnet sei Er, kam und fand sie schlafend.« Um sie zu wecken, gab es Donnerschläge, Blitze, und das Schofar ertönte (2. Buch Mose 19,16). Um das Versäumnis symbolisch wiedergutzumachen, bleiben viele bis heute in der Nacht wach und widmen sich dem Torastudium.
Diese Lernpraxis steht in Verbindung mit der halachischen Verpflichtung zum Toralernen, die laut rabbinischer Überlieferung in erster Linie Männer betrifft. In der Mischne Tora (Hilchot Talmud Tora 1,1) heißt es: »Frauen, Sklaven und Minderjährige sind vom Torastudium befreit.« Der Schulchan Aruch (Jore Dea 245) ergänzt: »Es ist ein ausdrückliches Gebot, dass ein Mann seinen Sohn in der Tora unterweist.« Wenn ein Vater dies unterlässt, ist der Sohn verpflichtet, sich selbst zu unterrichten.
Viele Gelehrte betonen ausdrücklich, dass Frauen sehr wohl lernen dürfen und sollen.
Doch aus dieser Tradition der Verpflichtung lässt sich kein Ausschluss ableiten. Viele Gelehrte betonen ausdrücklich, dass Frauen sehr wohl lernen dürfen und sollen, besonders wenn sie ein Interesse haben oder ihre religiöse Praxis vertiefen möchten. Verpflichtung für die einen bedeutet nicht, die anderen auszuschließen. Wer lernen will, darf und soll lernen.
Ein besonderes Augenmerk liegt an Schawuot auf dem Buch Ruth, das traditionell in dieser Nacht gelesen wird. Ruths Entscheidung, sich dem jüdischen Volk anzuschließen, steht beispielhaft für Mut, Hingabe und spirituelle Erneuerung. Dass ausgerechnet eine Erzählung über zwei Frauen im Mittelpunkt dieses Feiertags steht, lädt zu einem neuen Blick auf die Rolle von Frauen im religiösen Lernen ein. Das Buch Ruth lässt sich zudem als queere Erzählung lesen. Es ist voller Nähe, Loyalität und Liebe zwischen zwei Frauen. Darüber hinaus gilt die Erzählung als eine bekannte Giur-Geschichte, die zeigt, wie bewusst sich Menschen dem Judentum anschließen.
Dass Frauen der Tradition nach nicht verpflichtet sind, sollte nicht als Verbot verstanden werden. Schawuot bietet allen eine Möglichkeit, sich mit Texten auseinanderzusetzen und zu lernen – auch von den inspirierenden Frauen unserer Geschichte. Da gäbe es zum Beispiel Bruria, eine der bekanntesten Gelehrten im Talmud. Bruria wird als klug, bibelfest und argumentationsstark beschrieben. Sie verfügte über so tiefes Wissen, dass sie auch halachische Fragen diskutierte. Neben ihr finden sich auch heute zahlreiche weitere Rabbinerinnen, Philosophinnen und Denkerinnen, die lehren, publizieren und vor allem: die anderen Frauen den Weg ebnen.
Schawuot erinnert uns: Die Tora wurde allen gegeben, und Lernen darf kein Privileg, sondern sollte eine Einladung sein. Schawuot sollte uns dazu ermuntern, eine Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden zu werden, in der es keine festen Rollen gibt und alle manchmal Lernende und manchmal Lehrende sein können.
Die Autorin studiert am Abraham Geiger Kolleg und an der Universität Potsdam.