Noach

Nach mir die Sintflut

Überflutet: wenn alles im Wasser ertrinkt Foto: Getty Images

Noach sei ein »gerechter, untadeliger Mann in seinen Zeiten« gewesen, lesen wir in unserer Parascha. Anscheinend gab es nicht viele Gerechte und Untadelige zu jenen Zeiten, denn der Ewige beschließt, eine ungeheuere Flut über die Erde zu bringen, um alle Menschen und Tiere auf dem Land auszulöschen.

Nur Noach und seine engste Familie sollen gerettet werden, dazu paarweise Exemplare der Tiere – egal, ob nützlich für den Menschen oder nicht. Sogar vom Gewürm des Erdbodens soll Noach jeweils einzelne Paare einsammeln, und von den reinen Tieren sicherheitshalber je sieben Paare, um sie mit in seine Arche zu nehmen.

Wir kennen alle das beliebte Kinderzimmer-Motiv: die Arche mit den vielen Tieren, dazu den gütig lächelnden Noach, der wie ein liebevoller Großvater dargestellt wird. Nur – war er das tatsächlich: ein gütiger Mensch? »Gerecht« nennt ihn die Tora und auch »untadelig«, und sie setzt auch noch hinzu: »in seinen Zeiten«.

UMGEBUNG Hierüber entbrannte bereits in talmudischer Zeit eine Diskussion. Die Rabbinen fragten: Was bedeutet »in seinen Zeiten«? Rabbi Jochanan war der Ansicht, Noach sei nur deshalb positiv aufgefallen, weil um ihn herum ungeheuer viel Bosheit herrschte. Damit wäre die Aussage »in seinen Zeiten« doch eher ein zweifelhaftes Kompliment. Resch Lakisch meinte aber, man solle die Gerechtigkeit und die Untadeligkeit des Noach nicht relativ zur Umgebung sehen, sondern durchaus als absolute Attribute.

In diesem Sinn sagte Rabbiner Gunther Plaut (1912–2012): »Nichts ist schwieriger als ehrlich, friedsam und liebevoll zu sein, wenn Betrug, Gewalt und Hass die allgemein gültigen Normen einer Gesellschaft sind.« Wie gern wollen die Menschen seither die Auffassung von Resch Lakisch teilen! Und doch – etwas stört bei dieser Betrachtung. Der Ewige weiht Noach in seine Pläne ein, Noach weiß also um das Kommen der tödlichen Wassermassen. Er baut seine Arche, wie geheißen. Und als es dann so weit ist, nimmt er seine Frau, seine drei Söhne und deren Frauen, die ausgewählten Tiere, und dann geht er hinein in seine Arche. »Und Noach tat alles, wie der Ewige ihm geboten.« Was will Noach auch mehr: Die Familie ist um ihn, Essen hat er reichlich eingepackt, auch Futter für die Tiere. Die Tiere um ihn sorgen für Wärme und sicher auch für Abwechslung, die Arche ist wasserdicht und schwimmt wie eine Eins. Und wenn sich das Wasser dann erst einmal verzogen haben wird, dann werden sie alle herausgehen aus der Arche, dem Ewigen danken und ein neues Leben anfangen.

Mitleid Ein neues Leben – ganz allein die Familie Noachs? Hatte er keine Freunde, Verwandte und Bekannte, um die es ihm leidtat, als er sie dem sicheren Tod überlassen musste? Ist ihm nie der Gedanke gekommen, den Ewigen für den »Rest der Welt« um Gnade zu bitten? Oder einen blinden Passagier an Bord zu schmuggeln? Hatte der Ewige denn etwa zu ihm gesagt, er dürfe niemanden außer den explizit Genannten mitnehmen? Fühlte Noach womöglich sogar so etwas wie Schadenfreude? Hatte seine Frau, hatten seine Söhne keine Freunde, seine Schwiegertöchter keine Familien, an denen sie hingen?

Sicher, Noach tat, was der Ewige ihm aufgetragen hatte. Aber auch nur das. Unsere Weisen werden ihm später ein weiteres Attribut geben neben »gerecht« und »untadelig«, nämlich: »mitleidlos«. Er macht erst gar nicht den Versuch, mit dem Ewigen zu verhandeln, etwa um zehn Gerechte, wie es später Awraham tat, als er von der geplanten Zerstörung von Sodom und Gomorra erfuhr, oder gar um ein ganzes Volk, wie es Mosche Rabbenu tat, der mit dem Ewigen rechtete und sich weigerte, zusammen mit seiner engsten Familie als Einziger gerettet zu werden.

Noach befolgt das Gebot des Ewigen, wortwörtlich. Buchstabengetreu, aber ohne Herz, vielleicht auch ohne nachzudenken. Ist es Fatalismus, oder ist es Naivität – oder war Noach eben doch nur relativ gerecht und untadelig im Vergleich zu den Menschen seiner Zeit, aber nicht im wahren Sinn des Wortes?

Noach befolgt das Gebot des Ewigen nach dem Wortlaut, ohne zu hinterfragen – und ohne Barmherzigkeit. Ein wenig nachdenklich macht es einen schon, wenn man die Worte des Ewigen liest, nachdem Noach und alle menschlichen und tierischen Archenbewohner glücklich wieder auf trockenem Boden sind: »Ich will den Erdboden nicht noch einmal verfluchen um des Menschen willen – denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« Und das, wo Er doch Seine Geschichte mit den Menschen mit dem gerechten und untadeligen Noach und dessen Nachkommen gerade neu begonnen hat.

So ein richtiges Vorbild ist Noach also eigentlich nicht. Und doch schließt der Ewige einen Bund mit ihm, stellvertretend für die gesamte Menschheit, und Er gibt ihm sieben Gebote, als Minimum an ethischem Handeln: Der Mensch soll nicht morden, nicht rauben, nicht ehebrechen, keinen Götzendienst betreiben und den Ewigen nicht lästern, er soll Gerichtshöfe einrichten, damit jeder sein Recht einfordern kann, und er darf kein Fleisch von lebenden Tieren essen, was letztlich einem Tierschutzgebot gleichkommt. Diese Gebote sind für die gesamte Menschheit verpflichtend.

Viel später wird der Ewige noch einmal einen Bund schließen, diesmal mit den Benej Jisrael, einen immerwährenden Bund mit 613 Geboten. Das bedeutet mehr Pflichten und damit auch mehr Verantwortung, im Wissen um die Gebote und ihre richtige Anwendung.

TADEL Einst entschied Rabbi Joschua ben Levi in einer Konfliktsituation strikt nach dem Wortlaut des Gesetzes und verursachte damit den Tod eines Menschen. Vom Propheten Elija wurde er schwer getadelt, weil er nicht nach der Mischna der Frommen entschieden habe, die sich nicht auf Pergament noch auf Papier finde, sondern in den Herzen der Gerechten.

Ebenso führt uns Paraschat Noach vor Augen, dass ein wortwörtliches Befolgen von Vorschriften und Geboten manchmal sogar zum Gegenteil dessen führen kann, was der eigentliche Sinn dieser Vorschriften und Gebote ist. Seien wir also nicht wie Noach, (selbst)gerecht, aber unbarmherzig, sondern wie Awraham: untadelig und dabei mitfühlend.

Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt Noach erzählt von Gottes Beschluss, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Doch die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der in den Himmel reicht.
1. Buch Mose 6,9 – 11,32

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024