Waera

Mosches Weg

Warum die Verheißung nicht nur für biblische Zeiten gilt

von Rabbiner Jaron Engelmayer  20.01.2023 11:43 Uhr

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Warum die Verheißung nicht nur für biblische Zeiten gilt

von Rabbiner Jaron Engelmayer  20.01.2023 11:43 Uhr

Was unterscheidet einen erfolgreichen Menschen von einem erfolglosen? Der erfolgreiche Mensch steht einmal mehr auf, als er hinfällt.

Mosches Weg zum Erfolg seiner Mission ist gepflastert mit anfänglichen Rückschlägen und Misserfolgen. Nach der ersten Euphorie und Annahme seitens der Israeliten kommt schnell die Ernüchterung.

Der Pharao hört nicht auf Mosche und verhärtet die Arbeit, die Israeliten sind schwer enttäuscht und beklagen sich aufs Bitterste: »Der Ewige sehe auf euch (Mosche und Aharon) und richte! Die ihr faul gemacht habt unseren Geruch in den Augen Pharaos und in den Augen seiner Diener, dass ihr ein Schwert ihnen in die Hand gebt, uns zu töten!« (2. Buch Mose 5,21). Kein Wunder, dass sie danach nicht mehr die Kraft finden, weiter auf Mosche zu hören – »aus Kurzatmigkeit und schwerer Arbeit heraus« (6,9).

Rabbiner Lord Jonathan Sacks (1948–2020) sieht hier den Hinweis der Tora, dass der Weg zum Erfolg oft von Rückschlägen begleitet ist. So heißt es in Mischle, den Sprüchen (24,16): »Siebenfach fällt der Fromme und steht auf.«

VISION Genau mitten in dieser Misere erfolgt eine weitreichende und erhabene Vision zu Beginn unseres Wochenabschnitts: »Ich (der Ewige) führe euch aus Ägyptens Lastarbeiten, errette und befreie euch aus der Sklaverei, nehme euch Mir zum Volk und bringe euch in das versprochene Land.«

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) verweist darauf: Hier handelt es sich um nicht weniger als eine weltgeschichtliche Offenbarung! G’tt wird der gesamten Menschheit durch den dem Volk Israel bestimmten Weg sichtbar! Ausgerechnet jetzt, wo selbst das Volk nicht einmal imstande ist, hinzuhören?

Absolut. Denn die Vision ist nicht nur für das Hier und Jetzt in Ägypten bestimmt. Noch Jahrtausende werden die jüdischen Nachkommen über alle Generationen hinweg am Sederabend zu Pessach die vier Gläser Wein in Anlehnung an die vier Ausdrücke der Befreiung erheben und daran erinnern, dass der Auszug aus Ägypten nicht bloß eine weitere nationale Befreiungsgeschichte war, sondern das Wesen und die Bestimmung des für die gesamte Menschheitsgeschichte bedeutenden Weges des Volkes Israel ausmacht: Freiheit zwecks Selbstbestimmung, um die Tora zu erhalten und ins Land Israel zu ziehen.

komponenten Denn nur in Erfüllung dieser drei Komponenten erfüllt sich die g’ttliche Offenbarung beim Auszug aus Ägypten: Ein freies Volk zu schaffen, das die Tora erhält und ins Land Israel zieht – darauf erheben wir unsere Gläser!

Darüber hinaus kommen wir aber nicht umhin, die Bedeutung der Vision für die angesprochenen versklavten Israeliten zu erkennen, denn schließlich waren die Worte ja zunächst direkt an sie gerichtet. Manchmal muss eine Botschaft auch dann ausgesprochen und angebracht werden, wenn sie zuerst auf taube Ohren stößt und nicht aufgenommen wird. Denn es kommt der Moment, in dem sich die Bereitschaft eröffnet, die Botschaft anzunehmen, und dann befindet sie sich bereits am rechten Platz.

So fragt der Kotzker Rebbe, Rabbi Menachem Mendel von Kotzk (1787–1859): Warum heißt es im Abschnitt des Schma »und diese Worte sollen auch auf dem Herzen sein« (5. Buch Mose 6,6)? Sollen die Worte doch im Herzen und nicht nur auf dem Herzen getragen werden? Seine Antwort darauf: Oft ist das Herz verschlossen und nicht bereit, die Worte G’ttes in sich aufzunehmen. Es kommen jedoch Momente im Leben, in denen sich das Herz öffnet. Und wenn sich dann die Worte bereits auf dem Herzen befinden, werden sie auf ein Leichtes den Eingang ins nun geöffnete Herz finden.

Die Israeliten waren zum Zeitpunkt der Ansprache unter derartigem Fronarbeitsdruck, dass ihre Ohren die Worte nicht weiterleiten konnten. Nicht lange darauf kam aber die Entspannung, und die Botschaften konnten die Herzen der Versklavten erreichen, sie stärken und ihnen Größe und geschichtliche Bedeutung der Vorgänge näherbringen.

GEBOT Differenziert betrachtet, muss dazu jedoch ergänzt werden, dass nicht jede Botschaft zu jeder Zeit ausgesprochen werden soll. So kennen der Talmud und die Halacha das Prinzip: »So wie es ein Gebot ist, eine Sache anzubringen, die angenommen wird, so ist es auch ein Gebot, eine Sache nicht anzubringen, wenn sie nicht angenommen wird« (Jewamot 65b). Zu den Details gibt es einige Regeln und Diskussionen unter den halachischen Dezisoren, weshalb jede Situation auch individuell abgewogen und bewertet werden sollte.

Die Entspannung für die Unterdrückten ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten. Mit dem Einsetzen der Zehn Plagen veränderte sich deren Status schnell und deutlich, zunehmend begannen sie unter der Führung Mosches mehr Anerkennung seitens der Ägypter zu erfahren.

Wenn es für die Zehn Plagen ein Ranking gäbe, wäre die erste wohl ganz oben zu finden. Dass sich das Wasser des Nils und alle Gewässer Ägyptens in Blut verwandelten, wurde zum Statussymbol für die Demonstration der Allmacht G’ttes gegenüber den Ägyptern. Nicht nur, weil es der Auftakt der Zehn Plagen war und dasselbe Wunder schon zuvor als überzeugendes Zeichen der Mission G’ttes von Mosche vor den Augen der Israeliten ausgeführt wurde (2. Buch Mose 4,9; 30–31). Für die besondere Bekanntheit und tiefere Symbolik dieser Plage bedarf es weiterer Begründung.

ursprung Der Midrasch (Schemot Rabba 9,8) führt dies darauf zurück, dass der Pharao und die Ägypter im Fluss eine Gottheit sahen, Ursprung deren Segens, und deshalb dieser vom Ewigen als Zeichen Seiner Allmacht geschlagen wurde. Das erklärt, warum es den Fluss traf. Warum aber diesen nicht einfach austrocknen lassen? Wozu brauchte es das Zeichen der Umwandlung in ekelerregendes Blut?

Weitere Midraschim geben hierzu Aufschluss (Lekach tov Tehillim 78,43; Pirke deRabbi Elieser 19): Die Ägypter haben das Blut der Israeliten wie Wasser vergossen und den Fluss mit jüdischem Blut der hineingeworfenen Neugeborenen gefüllt – deshalb wurden sie mit demselben Maß geschlagen.

Zwei Dinge lassen sich diesen Midraschim entnehmen: Unschuldig vergossenes Blut kommt nicht zur Ruhe und schreit nach Vergeltung. So geschehen schon bei Kajin, dessen Bruders Blut vom Erdboden zu G’tt schrie (1. Buch Mose 4,10), so auch vom Propheten Jecheskel angeprangert, der den Zusammenhang zwischen den Untaten Israels vor der Zerstörung des Ersten Tempels und deren Bestrafung während der Zerstörung herstellt (24, 7–8): G’tt fordert das vergossene Blut vom Täter zurück.

plage Zweitens diente diese erste Plage zugleich als Warnzeichen des noch Kommenden. Der Pharao sollte daran erkennen, dass G’ttes Allmacht von ihm Gerechtigkeit einfordern wird: »Mida keneged Mida« – »Maß um Maß«. Also täte er gut daran, sich eines Besseren zu besinnen. Doch nahm er es sich nicht zu Herzen (2. Buch Mose 7,23) und wollte nicht verstehen, dass fühlen muss, wer nicht hören will: Seine Ägypter werden noch im Wasser ertrinken, so wie sie die israelitischen Kinder im Wasser ertränkten.

Erst Jitro wird es verstehen und diese Einsicht in ein klares Bekenntnis fassen (18,12): »Nun weiß ich, dass der Ewige groß ist über allen Mächten, denn das, womit sie frevelten, kam über sie.«

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

inhalt
Der Wochenabschnitt Waera erzählt, wie die Kinder Israels Mosche und Aharon kein Gehör schenkten, obwohl G’ttes Name ihnen von Mosche offenbart worden war. Mosche verwandelt vor den Augen des Pharaos seinen Stab in ein Krokodil und fordert den Herrscher auf, die Kinder Israels ziehen zu lassen. Der Pharao aber bleibt hart, und so kommen die ersten sieben Plagen über Ägypten: Blut, Frösche, Ungeziefer, wilde Tiere, Viehseuche, Aussatz und Hagelschlag. Doch der Pharao bleibt hart und lässt die Israeliten nicht ziehen.
2. Buch Mose 6,2 – 9,35

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