Kiddusch

Mit Schlapphut zur Schul

Es gibt zwei Arten von Menschen: die Kidduschverweigerer und die Kidduschgänger. Hier unterscheiden wir die exklusiven Kidduschbesucher, die sich aus dem wöchentlichen Angebot nur die Rosinen rauspicken (Steinreich-Kiddusch auf dem Golfplatz), und die fanatischen Kidduschgänger, die selbst bei Regen, Sturm und Schnee keinen Kiddusch auslassen, sei er auch noch so erbärmlich.

Die Kidduschfanatiker teilen sich wiederum auf in die Gesetzestreuen Fanatischen Kidduschgänger (GFK), eine langweilige, frugal lebende Spezies (auch bei Regen knallhart ohne Schirm, Handtasche und Kinderwagen samt Baby bleiben zu Hause), und die Heimlich Frönenden Fanatischen Kidduschgänger (HFFK), die still und leise mit dem Auto anreisen, es um die Ecke parken und ihren sportlichen Ehrgeiz darauf verwenden, dabei nicht erwischt zu werden. So mache ich das auch. Na und? Soll ich die dreieinhalb Kilometer etwa zu Fuß zurücklegen?

Was aber macht der Durchschnitts-HFFK, wenn sein Auto zur Reparatur ist? Oh nein, er lässt den Kiddusch nicht ausfallen, niemals! Vielmehr wirft er sich mit Schwung in die Arme des öffentlichen Verkehrsnetzes, selbst wenn es so erbärmlich ist wie in Brüssel, wo ich wohne.

Ich rüste mich also mit Mundschutz, Desinfektionsspray, Sonnenbrille und einem Schlapphut (inkognito bleiben ist wichtig!) und beginne meine Odyssee in Richtung Schul. Schon beim Betreten der Metrostation empfängt mich eine faszinierende Bandbreite von Farben, Lauten und Gerüchen: Tropfende Abwasser-Stalagtiten hängen von der Decke, auf der Rolltreppe müffelt es modrig-herb, die Wände ziert schimmelgrüner schleimiger Belag, untermalt von den leisen Rülpsgeräuschen der Belüftungsschächte, schließlich der farbenprächtige Flickenteppich von Schlafsäcken der Penner aus aller Herren Länder, die sich am Metroausgang zusammenfinden.

Ich steige höflich über die Penner-WG und schlendere mit Unschuldsmiene bis zum Eingang der Synagoge meiner Wahl, der »La Regence«. Wie immer herrscht hier eine Stimmung wie in einem Sarkophag: Eisige Kälte, Zugwind fegt durchs Gebälk, das Durchschnittsalter des Minjans beträgt ungefähr 97 Jahre. Ich betrachte die deprimierende Versammlung von schlechten Toupets und moosbewachsenen Gebissen, lasse Schulterklopfen
und In-die-Wange-Kneifen über mich ergehen, wie ich das seit ungefähr 30 Jahren tue. Und zum Kiddusch gibt es immer noch dieselben faden Eierkichel mit Billig-Slivovitz und fies riechenden Heringen.

Warum tue ich mir das an, Woche für Woche, Monat für Monat? Ich weiß es nicht, ich kann nicht anders. Mein halbes Leben lang hat mich mein Vater an den Ohrwascheln hinter sich hergezogen oder vor sich hergeschubst und hierhergeschleppt. Jetzt kann ich nicht mehr damit aufhören.

Sinnierend schiebe ich mir ein altbackenes Eierkichel rein, schaue auf die Uhr – oh weh! Abmarsch nach Hause, die Kinder müssen zur Bnei Akiva gekarrt werden (mit derselben bewährten
Duck-dich-heimlich-Metro-und-Tram-Methode). Und danach folgt, wie seit 30 Jahren, endlich, endlich der Höhepunkt des Tages, nein, der Woche, die Belohnung für alle Mühen und Leiden – hierin sind sich alle Kidduschgänger einig: der Schabbesschluff, seliges Versinken in weichen Sofakissen mit der Wochenendbeilage auf dem Gesicht, und erst wieder aufwachen, wenn das Abendessen serviert wird.

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025