Talmudisches

Metatron

Foto: Getty Images

Im vorletzten Vers des Tischgebets Birkat Hamason heißt es: »Einst war ich jung, nun bin ich alt, doch nie sah ich einen Gerechten verlassen, noch seine Kinder betteln um Brot« (Tehilim 37,25). Rabbi Jochanan fragt im Talmud (Jevamot 16b), wer der Autor dieser Worte sei.

Gemeinhin gilt König David als Autor des Buches Tehilim, der Psalmen. Der Talmud jedoch meint, dass König David nicht der Autor dieses Verses sein kann, denn er ist bereits im Alter von 70 Jahren gestorben und könne im Vergleich zu anderen biblischen Persönlichkeiten, die deutlich länger lebten, nicht als »alt« bezeichnet werden.

Gʼtt altert nicht und existiert außerhalb der Zeit

Vielleicht, fragt Rabbi Jochanan rhetorisch, ist Gʼtt selbst der Autor dieser Worte? Doch auch das könne nicht sein, da Gʼtt nicht altert und außerhalb der Zeit existiert. Der Talmud kommt daher zu einem bemerkenswerten und ungewöhnlichen Schluss: Der »Minister der Welt«, der Engel des Universums, der laut den Weisen des Talmuds mit dem Engel Metatron identifiziert wird, ist der wahre Autor dieses Verses.

Wer ist dieser Engel? Warum bezeichnet der Talmud ihn als »Minister der Welt«? Was ist seine Verbindung zu diesem Psalm? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir ins erste Buch der Tora schauen. Dort heißt es: »Und Hanoch wandelte mit Gʼtt und war nicht mehr, denn Gʼtt hatte ihn genommen« (5,24). Hanoch war Noachs Urgroßvater und lebte sieben Generationen nach Adam. Er starb nicht wie seine Vor- und Nachfahren, sondern wurde von Gʼtt »genommen«. Die Tora verliert in ihrem weiteren Verlauf kein Wort mehr über ihn.

Die Besonderheit in der Beschreibung seines Todes hat spätere Werke dazu inspiriert, über sein Schicksal zu spekulieren. In den Höhlen der Negevwüste wurden die Bücher Hanoch 1 und das Buch der Jubiläen in aramäischer und hebräischer Sprache gefunden. Diese Bücher wurden wahrscheinlich vor rund 2200 Jahren verfasst, waren den Juden zur Zeit des Zweiten Tempels bekannt und sind heute noch Teil der Bibel der äthiopischen Christen, jedoch nicht Teil des jüdischen Kanons.

In diesen Büchern wird berichtet, dass Hanoch zu Gʼtt geholt wurde, und er die Geheimnisse des Universums lernte. In einem weiteren Buch, dem Buch Hanoch 2, das wahrscheinlich aus der Zeit der Zerstörung des Zweiten Tempels stammt, wird berichtet, dass Hanoch sich in einen Engel verwandelte, als Gʼtt ihn zu sich holte. Im 3. Buch Hanoch – es stammt aus dem 6. Jahrhundert und ist Teil der jüdischen Mystik – wird dann explizit erwähnt, dass Gʼtt Hanoch in den Engel Metatron verwandelt hat. Der Zohar und spätere kabbalistische Werke identifizieren diesen Engel durchgehend mit Hanoch.

Der Anblick Metatrons ließ Elischa ben Awuja am Monotheismus zweifeln

Metatron wird als derart erhaben und mächtig beschrieben, dass der Talmud in einer anderen Geschichte (Chagiga 15a) berichtet, dass Elischa ben Awuja nach seiner mystischen Reise vom Glauben abfiel, da der Anblick Metatrons ihn am Monotheismus zweifeln ließ. Metatron gilt als »Minister der Welt«, da er zu einer Art Buchführer und Zeuge der menschlichen Taten auf Erden ernannt wurde.

Der gesamte Psalm 37 ist eine Art Erinnerung an diejenigen, die womöglich meinen könnten, das Böse in dieser Welt bliebe ungestraft. So heißt es dort: »Frevler ziehen das Schwert und spannen ihren Bogen, um den Armen und Dürftigen zu stürzen, um zu schlachten, wer des geraden Wandels ist. Doch ihr Schwert dringt in ihr eigenes Herz« (Verse 14 und 15).

Jetzt ergibt es Sinn, dass nur Metatron alt genug ist, um solche Aussagen zu machen. Denn als »Minister der Welt« führt er für Gʼtt Buch über die Taten der Menschen, und dies über einen Zeitraum von Jahrtausenden. Metatron kann sehen, dass der Frevler durch sein eigenes Schwert stirbt, da die Sünden aus seinen früheren Reinkarnationen ihn einholen. Und er kann auch sehen, dass die Seele des Gerechten im Laufe der Zeit immer ihren guten Lohn erhält.

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025

Talmudisches

Audienz beim König aller Könige

Was unsere Weisen über das Gebet und seine Bedeutung lehren

von Rabbiner Avraham Radbil  31.10.2025

Geschichte

Wer war Kyros der Große?

Manche behaupten, Donald Trump sei wie der persische Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte. Was hinter dem Vergleich steckt

von Rabbiner Raphael Evers  30.10.2025

Interview

»Süßes gibt’s auch in der Synagoge«

Jugendrabbiner Samuel Kantorovych über Halloween, dunkle Mächte und Hexen im Talmud

von Mascha Malburg  30.10.2025

Vatikan

Papst bedauert Krise im Dialog mit Juden - verurteilt Antisemitismus

Seit Jahren ist der Dialog des Vatikans mit dem Judentum belastet. Nun hat Leo XIV. versucht, die Dinge klarzustellen - mit einem Bekenntnis zum Dialog und gegen den Antisemitismus

von Ludwig Ring-Eifel  29.10.2025

Schwielowsee

Shlomo Afanasev ist erster orthodoxer Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg

Militärrabbiner gibt es bereits in Deutschland. Nun steigt der erste orthodoxe Rabbiner bei der Bundeswehr in Brandenburg ein

 29.10.2025

Rom

Eklat durch NS-Vergleich bei interreligiösem Kongress

Der Dialog zwischen katholischer Kirche und Judentum ist heikel. Wie schwierig das Gespräch sein kann, wurde jetzt bei einem Kongress in Rom schlagartig deutlich. Jüdische Vertreter sprachen von einem Tiefpunkt

von Ludwig Ring-Eifel  27.10.2025

Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Die rätselhafte Geschichte einer Frau zwischen Märtyrertum und Missverständnis

von Yizhak Ahren  24.10.2025