Flexibilität

Ma nischtana?

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Flexibilität

Ma nischtana?

Manche Rabbiner erlauben wegen der Corona-Krise, was sonst verboten ist – und ernten dafür Kritik

von Ralf Balke  07.04.2020 18:00 Uhr

»Ma nischtana ha-Laila hase mikol ha-Lailot – Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?« Normalerweise verursacht diese Frage vor allem bei dem jüngsten Kind am Tisch reichlich Stress, weil es sie vor der versammelten Familie stellen soll. So will es jedenfalls die Tradition.

Doch zu diesem Pessach wird aufgrund der Coronavirus-Krise vieles anders sein als sonst. Und genau das stellt nicht nur die Kinder am Sedertisch, sondern wohl alle vor ungewohnte Herausforderungen. Es begann mit den Reiseplänen zu den Feiertagen, die so mancher hatte: Die fielen als Erstes ins Wasser.

Strich Wer etwa Pessach nutzen wollte, um allen familiären Verpflichtungen zu entfliehen, dem machte Covid-19 genauso einen Strich durch die Rechnung wie auch denjenigen, die sich seit Monaten darauf freuten, die ganze Mischpoche von überall her zusammenzutrommeln.

Denn sukzessive wurde vielerorts die Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt, Airlines stellten den Betrieb ein. Ende Februar warnte die »Jerusalem Post« deshalb schon, dass es in Israel womöglich zu einer Mazze-Knappheit kommen könne, weil nicht, wie sonst üblich, fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung die Feiertage im Ausland verbringen werden.

empfehlung Doch ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Da die flächendeckende Versorgung mit Produkten, die koscher le-Pessach sind, aufgrund unterbrochener Lieferketten oder der Schließung von Betrieben aktuell überall ein Problem darstellt, reagierte vor wenigen Tagen das Londoner Beit Din mit einer äußerst unkonventionellen Empfehlung.

So erstellte die Kaschrut-Abteilung des religiösen Gerichts eine Liste unter dem Titel »Product Guidelines in extremis«, um all denen zu helfen, die sich entweder in Quarantäne befinden oder aufgrund der Folgen der Pandemie finanziell angeschlagen sind. Darin werden Lebensmittel oder Hygieneprodukte genannt, die dieses Jahr zu Pessach, anders als sonst üblich, konsumiert werden dürfen und von welchen man trotzdem weiterhin die Finger lassen sollte.

Manche dagegen sind in die Kategorie »fallabhängig« eingeordnet – schließlich will man Flexibilität zeigen. »Wir sind uns des Drucks in dieser beispiellosen Zeit sehr bewusst«, erklärte dazu der Direktor der Kaschrut-Abteilung, Rabbi Jeremy Conway. »Schließlich wissen wir bereits, warum dieser Sederabend anders sein wird als andere zuvor.«

Das Londoner Beit Din erweiterte die Liste der für Pessach koscheren Lebensmittel.

Zum Beispiel sind nun reguläre Milch und Fruchtsäfte erlaubt, solange keine Antioxidantien beigemengt sind, Gleiches gilt für Früchte und Gemüse aus der Tiefkühltruhe. Quinoa dagegen darf nur im Notfall verwendet werden. Nicht für Pessach zertifizierte koschere Softdrinks, eingelegte Gurken, Oliven oder Marmeladen bleiben jedoch weiter außen vor. Die Liste wird ständig aktualisiert und ist unter www.kosher.org.uk abrufbar.

Produkte »Sie sollte verwendet werden, wenn regelmäßig überwachte Produkte nicht verfügbar sind oder ältere und isoliert lebende Menschen nicht in der Lage sind, selbst einzukaufen oder sich Pessach-Produkte nach Hause liefern zu lassen«, heißt es.

Alle Handdesinfektionsmittel sind für die Verwendung an Pessach nun freigegeben. Die Coronavirus-Krise zwingt die Autoritäten dazu, erstmals mit einer Tradition zu brechen, die in dieser Form seit dem 15. Jahrhundert besteht, bringt es »The Jewish Chronicle« auf den Punkt.

Quarantäne Aber auch die drastischen Quarantäne-Bestimmungen erfordern Veränderungen. Wer sich in Israel nach 17 Uhr weiter als 100 Meter von seinem Wohnsitz entfernt, kann nun zu einer Geldstrafe von 500 Schekel, umgerechnet rund 125 Euro, verdonnert werden.

Darüber hinaus gab das Gesundheitsministerium jetzt die Direktive aus, dass Familienmitglieder, die nicht im selben Haus leben, dem traditionellen Sedermahl auf jeden Fall fernbleiben sollten. »Sie werden daheimbleiben müssen und das Festessen auf die Kernfamilie reduzieren«, erklärte Uri Schwartz, Rechtsberater des Ministeriums. »Das bedeutet leider auch, dass Menschen an Pessach und zum Seder allein bleiben werden.«

Ausnahmeregeln wird es keine geben, betonte er. »Sicherlich ist das für alle eine sehr schwierige Situation, aber wir haben einfach keine andere Wahl.«

Sederabend Wie einschneidend diese Direktive sein wird, kann man nur erahnen. Denn laut einer Untersuchung des Jewish People Policy Institute haben – egal, ob orthodox, traditionell oder säkular eingestellt – 97 Prozent aller israelischen Juden 2018 an einem Sederabend teilgenommen.

Synagogen werden dieses Pessach fast überall geschlossen bleiben, mancher Reformrabbiner organisiert deshalb für den zweiten Sederabend einen Livestream.

Kibbuz Selbst die eher säkular ausgerichteten Kibbuzim brechen mit einer Tradi-tion. Dort ist der Sederabend weniger eine Familienangelegenheit, sondern eine große Feier für die ganze Gemeinschaft. Bis zu 1300 Menschen kommen dann zusammen, so wie im Kibbuz Na’an.

Oberrabbiner Lau findet es unverantwortlich, dass Kollegen am Sederabend »Zoom« gestatten.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass dieses Jahr die Feier nicht stattfindet«, so eine sichtlich enttäuschte Raaya Ben-Avraham, die seit 14 Jahren dieses Event organisiert. »Unser Kibbuz wird im Oktober den 90. Jahrestag seiner Gründung begehen, und dies ist das erste Mal in seiner Geschichte, dass wir den Sederabend absagen müssen.«

Gefühl Um nun denjenigen, die jetzt Pessach abgeschnitten von Familie oder Freunden verbringen müssen, wenigstens das Gefühl zu vermitteln, ihre Lieben virtuell um sich zu wissen, haben sich religiöse Autoritäten in Israel zu einigen unkonventionellen Schritten entschlossen, allen voran der sefardische Rabbiner Eliyahu Abergel, ehemals Vorsitzender des Jerusalemer Rabbinatsgerichts.

Man würde zum Sederabend die Nutzung des Videokonferenzdienstes »Zoom« gestatten, um vor allem »den älteren Menschen ein wenig die Traurigkeit zu nehmen und sie zu motivieren, weiter zu kämpfen, und um Depressionen zu verhindern, die sie womöglich zur Verzweiflung bringen könnten«.

Zoom Schließlich sei die Coronavirus-Krise eine »Zeit des Notstands«. Einzige Einschränkung: Das elektronische Gerät, auf dem Zoom laufe, müsse vor Beginn des Feiertags aktiviert werden. Israels aschkenasischer Oberrabbiner David Lau nannte diese Entscheidung jedoch »unverantwort­lich« und fügte hinzu, dass Abergel und die anderen Rabbiner, die das mittragen, nicht wirklich verstanden hätten, was ein solches halachisches Urteil bedeute: »Es ist eine Schande, dass sie die Öffentlichkeit irreführen.«

Auch in Europa sind die Meinungen zu Zoom am Sederabend geteilt. Der orthodoxe Rabbiner Jehoschua Ahrens, Director Central Europe des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation, findet: »Die Entscheidung der sefardischen Rabbiner ist nachvollziehbar.

Sie basiert auf klaren halachischen Grundlagen, beispielweise von Rabbiner Ben Zion Uziel, ehemaliger Oberrabbiner von Israel. Sie interpretieren die ›Sakanat Nefaschot‹ (Gefahr für die Seele) lediglich weiter als beispielweise Rabbiner Hershel Schachter. Die Entscheidung ist aber eine einmalige Ausnahme und gilt nicht grundsätzlich.«

Hawdala Arie Folger, orthodoxer Rabbiner des Lehrhauses Orchot Chajim in Wien und Mitglied des Standing Committee der Europäischen Rabbinerkonferenz, sieht das anders. »Für Alleinstehende wird Pessach sehr einsam«, sagt er. »Dennoch ermöglichen die Gesetze von Schabbat und Feiertagen hier keine Ausnahme, es sei denn, Leben könnte gefährdet sein.«

Folger schlägt vor: »Warum nicht während einer Stunde vor Beginn des Feiertags mittels Zoom Sederlieder und am Ende des Feiertags die Hawdala gemeinsam singen?«

Bemerkenswerterweise hatte Israels Oberrabbiner Yitzhak Yosef schon vor Tagen in bestimmten Fällen sogar gestattet, am Schabbat die Telefone angeschaltet zu lassen. Auch die Nutzung von Wagen mit Lautsprechern, die orthodoxe Viertel sofort über weitere Quarantänemaßnahmen informieren können, hatte seinen Segen. Oberrabbiner Yosef begründet dies mit der jüdischen Pflicht zur Rettung gefährdeten Lebens, also Pikuach Nefesch, die Vorrang vor anderen Geboten habe.

Schaltjahr Die Petition von Yedidia Meshukammi aus Itamar im Westjordanland, Pessach zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden zu lassen, scheiterte allerdings. Er hatte dafür plädiert, das laufende Jahr 5780 zu einem Schaltjahr zu erklären und so die Option zu nutzen, einen Monat dazu zu addieren.

In der Antike habe man das so gehandhabt, wenn die Gerstenernte später erfolgte oder für Pilger auf Reisen besondere Gefahren drohten. Israels Oberstes Gericht lehnte den Vorschlag jedoch mit der Begründung ab, man besitze keine Autorität für einen solchen Beschluss.

Doch einen Vorteil hat die veränderte Situation vielleicht, zumindest aus Sicht der Jüngsten am Sederabend. Wenn nur ganz wenige Personen am Tisch sitzen, ist für sie die Frage »Ma nischtana ha-Laila hase mikol ha-Lailot?« womöglich stressfreier.

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