Resilienz

Kraft, die von innen kommt

Der Ewige gibt uns rettenden Halt in unseren dunkelsten Momenten

von Rabbiner David Kraus  08.12.2022 09:33 Uhr

Widerstandsfähigkeit: Es geht darum, mit herausfordernden Lebenserfahrungen umzugehen und diese zu bewältigen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Der Ewige gibt uns rettenden Halt in unseren dunkelsten Momenten

von Rabbiner David Kraus  08.12.2022 09:33 Uhr

Kennen Sie den Film Reine Nervensache? Robert De Niro spielt darin Paul Vitti, New Yorks mächtigsten Mafiaboss. Bei einer Besprechung mit seinen Mafiosi bekommt Paul auf einmal Herzrasen, beginnt zu schwitzen, hat Harndrang und Atemnot. Ein Herzinfarkt?

Die überraschende Diagnose des Arztes lautet ganz anders: Panikattacke. Paul Vitti, der im Visier seiner Feinde steht, scheint große Angst zu haben – und inzwischen auch Angst vor der Angst, was zur Panik führt. Ein echter Teufelskreis, den der Mafiaboss aber nicht wahrhaben will: »Sehen Sie mich an, Doc! Sehe ich aus wie ein Typ, der in Panik gerät!?«

angst Nicht nur ein schuldbeladener Verbrecher, sondern wir alle können sehr schnell in Angst und Panik geraten. Niemand reist ununterbrochen im Erfolgszug durchs Leben. Jeder hat Misserfolge und macht Fehler. Wir alle blamieren uns. Wir alle haben Schmerzen. Wir alle haben Probleme. Wir alle haben Druck. Und viele sind mit besonderen Widrigkeiten konfrontiert.

Das können persönliche Krisen sein wie Krankheit, der Verlust eines geliebten Menschen, Missbrauch, Mobbing, Arbeitsplatzverlust und Geldsorgen. Und es gibt die gemeinsame Realität tragischer Ereignisse wie Terroranschläge, Massenerschießungen, Naturkatastrophen, eine globale Pandemie und Krieg.

Verblüffend ist, dass Menschen unterschiedlich gut mit Krisen und Katastrophen fertigwerden. Wem es gelingt, mit herausfordernden Lebenserfahrungen umzugehen und diese zu bewältigen, der hat Widerstandsfähigkeit. Der Modebegriff der Psychologie dafür lautet: Resilienz. Aber die Beschäftigung damit ist viel älter.

METAPHER Wenn es darum geht, unser Leben zu beschreiben, komme ich immer wieder auf die Metapher des chassidischen Rabbiners Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772–1810) zurück: »Die ganze Welt ist eine sehr schmale Brücke, und das Wichtigste ist, sich überhaupt nicht zu fürchten.«

Überall, wo es Ordnung gibt, gibt es auch einen Ordner.

Rabbi Nachman will uns mit dem Bild einer wackeligen Hängebrücke nicht erschrecken. Im Gegenteil: Er spricht uns Mut zu. Denn er weiß: Überall, wo es Ordnung gibt, gibt es auch einen Ordner. G’tt hat alles im Detail sorgfältig erschaffen. Und der Glaube an den einen und einzigen G’tt, an Haschem, ist unsere rettende Kraft in unseren dunkelsten Momenten. Er verleiht uns Resilienz – die Kraft, die von innen kommt.

Die Entwicklung einer gesunden Beziehung mit dem Ewigen hilft uns, Hindernisse zu überwinden. Denn wenn wir an eine höhere Kraft glauben, glauben wir auch an die Macht des g’ttlichen Eingreifens, die uns zeigen wird, was wir tun müssen und warum etwas geschieht. Und so vertrauen wir darauf, dass Haschem uns auch aus einer unguten Situation erretten wird.

Was rät uns Rabbi Nachman, wenn wir mit Problemen und Ängsten belastet sind? Ähnlich wie beim Schma Jisrael sollen wir an G’tt denken, ganz fest die Augen schließen und sie mit der rechten Hand bedecken. So verbinden wir uns wieder mit Dem, Der alles kann, mit unserem uns über alles und immer bedingungslos liebenden Vater im Himmel. Und danach lassen wir unsere Augen weiter geschlossen, stellen uns eine positive Lösung für unser Problem vor und bitten den Ewigen, uns den besten Weg zu zeigen.

problem Aber vergessen wir nicht: Der Glaube nimmt uns nicht aus dem Problem, sondern er führt uns durch das Problem. Der Glaube nimmt uns nicht aus dem Sturm, sondern beruhigt uns inmitten des Sturms. Der Glaube nimmt auch nicht immer den Schmerz, aber er gibt uns die Fähigkeit, mit dem Schmerz umzugehen und seelisch gesund zu bleiben. Genau das nennt man Resilienz.

Das Wort Resilienz kommt vom lateinischen Verb »resilire«, das »zurückspringen« bedeutet. Wer resilient ist, »springt« auch nach harten Erfahrungen immer wieder zurück in die Sicherheit, die sein Inneres ihm bereitet – wie ein Stehaufmännchen. Und meine Assoziation dazu ist auch, dass resiliente Menschen einen Schritt zurücktreten können. Wenn wir Angst haben, gehen wir in einen Tunnelblick. So projizieren wir schreckliche Ergebnisse auf der Grundlage unserer eigenen schlimmsten Vorstellungen.

Das Wort Resilienz kommt vom lateinischen Verb »resilire«, das »zurückspringen« bedeutet.

Wenn ich aber einen Schritt zurückgehe, dann bin ich wieder in der Lage, das Gesamtbild zu sehen. Ich ignoriere die chaotische Umgebung, akzeptiere, was ist und wie es ist, und ich vertraue darauf, dass es besser wird. Ich konzentriere mich auf Selbstwirksamkeit statt auf die Opferrolle.

LANGZEITSTUDIE Die amerikanische Psychologin Emmy Werner (1929–2017) verfolgte in ihrer Kauai-Langzeitstudie über 32 Jahre hinweg den Werdegang von 698 hawaiianischen Kindern des Jahrgangs 1955. Alle Probanden litten in der Kindheit schwere Not und viel Leid durch Hunger, Vernachlässigung und Misshandlung. Sie haben die Hölle auf Erden erlebt. Aber wie wirkte sich das auf ihr Erwachsenenleben aus?

Ein Drittel der Kinder verfiel in schwere Suchtprobleme und Kriminalität; sie bekamen ihr Leben nicht auf die Reihe. Doch ein anderes Drittel schaffte es trotz schlechter Startbedingungen, ein beruflich und menschlich erfolgreiches und erfülltes Leben zu führen. Emmy Werner nannte sie »verletzlich, aber unbesiegbar«, denn diese Kinder hatten das Geheimnis der Belastbarkeit für sich entdeckt.

Emmy Werner spricht von vier Faktoren der psychischen Widerstandsfähigkeit, die uns befähigen, Stressoren zu umgehen und ein zufriedenes Leben zu führen. Die vier Faktoren sind: fürsorgliche und unterstützende Menschen und Orte, Möglichkeiten zur Teilnahme an sinnvollen Aktivitäten, Arbeit und Verantwortung.

Die Kinder aus Hawaii würden vielleicht ergänzend abrunden: »Wir alle brauchen Ohana.« Ohana ist Hawaiianisch und bedeutet Familie. Familie bedeutet, dass niemand zurückgelassen oder vergessen wird. Familie bedeutet zu wissen, dass wir wertvoll und wunderbar sind. Alles, was wir brauchen, ist also ein wenig Liebe. Und ich füge hinzu: Auch das Aufgehobensein im Glauben an den Einen macht resilient.

Der Autor ist Rabbiner, Paar- und Familientherapeut in Jerusalem. Er ist Verfasser des Buches »Der fröhliche Rabbi und die verschlungenen Wege zum Glück«.

Ki Tissa

Aus Liebe zum Volk

Warum Mosche die Bundestafeln nach dem Tanz der Israeliten um das Goldene Kalb zerbrach

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  14.03.2025

Talmudisches

Der Turm in der Luft

Die Weisen der Antike diskutierten anhand eines besonderen Schranks über rituelle Reinheit

von Vyacheslav Dobrovych  14.03.2025

Purim

Doppelter Feminismus

Waschti und Esther verkörpern zwei sehr unterschiedliche Strategien des Widerstands gegen die männliche Dominanz

von Helene Braun  13.03.2025

Megilla

Wegweiser in der Fremde

Aus der Purimgeschichte leitete ein mittelalterlicher Rabbiner Prinzipien für das jüdische Überleben in der Diaspora ab, die erst in der Moderne wiederentdeckt wurden

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  13.03.2025

Militärseelsorge

Militärrabbiner Ederberg: Offenes Ohr für Soldaten im Norden

Arbeit bei der Bundeswehr sei Dienst an der Gesellschaft insgesamt, den er als Rabbiner gerne tue, sagt Ederberg

 11.03.2025

Fest

Mehr als Kostüme und laute Rasseln: Purim startet am Donnerstagabend

Gefeiert wird die Rettung der Juden vor der Vernichtung durch die Perser

von Leticia Witte  11.03.2025

Tezawe

Kleider, die die Seele formen

Was es mit den prächtigen Gewändern der Hohepriester auf sich hat

von Rabbiner Jaron Engelmayer  07.03.2025

Talmudisches

Heilen am Schabbat

Was unsere Weisen über Notfälle und Pikuach Nefesch lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  07.03.2025

Meinung

Übersehene Prophetinnen

Zum Weltfrauentag fordert die Rabbinatsstudentin Helene Braun mehr Sichtbarkeit für jüdische Vorreiterinnen

von Helene Braun  06.03.2025