Notlüge

Koscher flunkern

Lebenshilfe: Wenn es dem großen Ganzen dient, darf man hin und wieder auch mal ein Auge zudrücken – oder gleich beide wie der Löffelverbieger Uri Geller. Foto: dpa

Nach Jakows Tod befürchten Josefs Brüder, er werde sich für die begangenen Taten an ihnen rächen. Sie denken, er habe sie bisher nur verschont und sie versorgt, weil ihr Vater Jakow noch am Leben ist. Sie meinen, er habe sie nur um der Ehre ihres Vaters willen unterstützt und nicht, weil er ihnen ihre Schuld von damals schon lange verziehen hat.

Im 1. Buch Moses 50,15 lesen wir: »Als Josefs Brüder sahen, dass ihr Vater tot war, sprachen sie: ›Wenn nun Josef uns befeindete? Vergelten wird er uns gewiss all das Böse, was wir ihm zugefügt haben‹«. Aus diesem Grund sagen die Brüder zu Josef, sein Vater hätte vor seinem Tod Folgendes geäußert: »Also sprecht zu Josef: ›Oh, vergib doch die Missetat deiner Brüder und ihre Schuld! Denn Böses haben sie dir zugefügt‹« (1. Buch Moses 50,17). Der Tora ist nicht zu entnehmen, dass Jakow dies wirklich zu seinen Söhnen gesagt hat. Es steht auch nirgendwo in der Tora, dass Josef alles, was seine Brüder ihm angetan haben, Jakow erzählt hätte. Die Brüder hingegen sind davon überzeugt, dass Josef seinem Vater von all den Missetaten berichtet hat.

Petzen Warum waren sich die Brüder so sicher, dass Josef gepetzt hat? Im 1. Buch Moses 37,2 lesen wir: »Als Josef 17 Jahre alt war … brachte er üble Nachrede von ihnen (den Brüdern) an ihren Vater.« So kannten sie Josef. Inzwischen ist er in Ägypten zum Stellvertreter des Pharaos ernannt worden und hat sehr viel Macht und Einfluss. Aus diesem Grund fürchten seine Brüder um ihr Leben und erfinden die Geschichte von Jakows Bitte, ihnen die Schuld zu vergeben. Josef hingegen ist sich sicher, dass sein Vater das kaum gesagt haben kann, denn er hatte ihm ja nichts von alledem erzählt. Da er sich aber in die Lage seiner Brüder hineinversetzen kann, versteht er, dass sie große Angst um ihr Leben haben. Aus diesem Grund weint er, als die Brüder so zu ihm sprechen und vor ihm auf die Knie fallen.

Es stellt sich die Frage, ob die Brüder als Oberhäupter der zwölf Stämme Israels eine so große Lüge erzählen dürfen und das nur aus lauter Angst und Sorge um ihr eigenes Wohlergehen. Die Tora schreibt an mehreren Stellen über Wahrheit und Lüge, so zum Beispiel in den Zehn Geboten: »Du sollst nicht zeugen wieder deinen Nächsten«, im Wochenabschnitt Mischpatim: »Von einem falschen Ausspruch halte dich fern«, im 3. Buch Moses 19,11: »Ihr sollt nicht stehlen und ableugnen und belügen einer den anderen. Und ihr sollt nicht schwören bei meinem Namen zu einer Lüge«. Hierzu lehrt Raschi: »Wenn du stiehlst, bringt dich das zum Leugnen und am Ende zum falschen Schwören gegenüber Haschem.«

Das Verbot zu lügen und die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, ist eine der 613 Mizwot. Die oben zitierten Bibelverse beziehen sich meistens auf Zeugen und Richter. In der Halacha hingegen findet man kein Gebot zur Wahrheitspflicht oder ein Verbot der Lüge im täglichen Leben, obwohl die Unwahrheit zu sagen, ein moralischer Verstoß innerhalb der zwischenmenschlichen Beziehungen ist. So steht im 5. Buch Moses 6,18: »Und du sollst tun, was recht und gut ist in den Augen des Ewigen.« Vielleicht erlauben es sich so viele Menschen, aus kleineren Anlässen zu lügen, weil es in der Tora keine Strafandrohungen wegen Lügens gibt im Gegensatz zu anderen Verboten.

Schalom Bajit Die Tora zeigt uns verschiedene Fälle, in denen die Wahrheit zugunsten wichtigerer Sachverhalte »verbogen« wird. Zum Beispiel als Awraham und Sara die Nachricht erhalten, dass sie ein Kind bekommen werden: »Und es lachte Sara in ihrem Innern und dachte: Nachdem ich alt wurde, wird mir noch Wollust, und mein Herr ist alt« (1. Buch Moses 18,12). Als G’tt gegenüber Awraham Sara zitiert, sagt Er: »Warum lachte Sara und denkt: Soll ich wirklich gebären? Und ich bin ja alt.« Wir sehen: G’tt verbiegt die Wahrheit. Er tut es zugunsten des Schalom Bajit, des häuslichen Friedens. Haschem sagt nicht zu Awraham, dass Sara gemeint habe, ihr Mann sei alt, sondern Er erzählt Awraham, dass Sara sich selbst als alt bezeichnet. Hier verbiegt G’tt die Wahrheit um einer wichtigeren Sache willen: des Friedens zwischen den Ehepartnern und der Ehre des Menschen.

Zweites Beispiel: G’tt schickt Moses zum Pharao mit der Bitte »Wir möchten ziehen drei Tagesreisen weit in die Wüste, dass wir opfern dem Ewigen« (2. Buch Moses 5,3). Die eigentliche Absicht war jedoch, dass G’tt den Ältesten Israels versprochen hat: »Ich will euch herausführen aus dem Elend Ägyptens ... in ein Land, fließend von Milch und Honig« (3, 17-18). Auch hier greift G’tt zu einer Notlüge – um der Befreiung des Volkes willen.

Drittes Beispiel: Awraham und Jitzchak sagen jeweils über ihre Ehefrauen, sie seien ihre Schwestern (1. Buch Moses 20, 1-18 und 26, 6-12). Diese Notlügen ersannen die beiden Männer, um ihre Leben zu schützen.

Relativ Unsere Weisen sehen in der Wahrheit und der Lüge ein relatives und kein klar definiertes Problem. Im Talmud (Kalla Rabati 10) gibt es eine Diskussion zwischen den Schulen Hillel und Schamaj: Wie verhält man sich bei einer Hochzeit richtig, wenn der Bräutigam eine weniger hübsche Braut heiratet? Darf man über die Braut reden? Wenn ja, wie? Das Haus Schamaj sagt: Man soll die Wahrheit sagen. Die Schule Hillel sagt: Man soll trotzdem sagen, dass es eine richtige, schöne Braut ist, obwohl dies schon wieder eine Notlüge ist.

Die Rabbiner folgen der Meinung der Schule Hillels und akzeptieren dies als Halacha. Auch in diesem Fall wird die Wahrheit verbogen zugunsten des Friedens zwischen den Menschen.

Im Midrasch Bereschit Raba 100,9 sagt Rabbi Schimon ben Gamliel, dass der Frieden zwischen den Stämmen Israels wichtig war, und aus diesem Grund griff man auch zur Lüge. Im Talmudtraktat Jebamot 65 sagt Rabbi Ila: »Es ist erlaubt, die Aussage eines Menschen um des Friedens willen zu ändern« – so, wie es die Söhne Jakows Josef gegenüber gemacht haben.

Für Zeugen bei Gericht ist es absolut wichtig, die Wahrheit zu sagen. In diesen Fällen darf man nicht lügen. In allen anderen Fällen müssen wir Menschen versuchen, einen goldenen Mittelweg zu finden. Die Richtung, diesen Mittelweg zu finden, weisen uns Tora und Talmud: Es geht immer um die Liebe zum Frieden.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Hof (Saale).

Inhalt
Im Wochenabschnitt Wajechi segnet Jakow die Enkel Efrajim und Menasche. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und an jeden von ihnen wendet er sich mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird einbalsamiert. Seinem Wunsch entsprechend wird er in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass G’tt sie in das versprochene Land zurückführen wird. Wenn sie dorthin zurückkehren, sollen sie seine Gebeine mitnehmen. Am Ende der Parascha Wajechi, das zugleich auch das Ende des ersten Buches der Tora ist, stirbt Josef im Alter von 110 Jahren.
1. Buch Moses 47,28 – 50,26

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025