Erkenntnis

Kleine Inseln der Zeit

Beten kann helfen, sich aus dem alltäglichen Stress auszuklinken. Foto: Flash 90

Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen einen einfachen, günstigen und unkomplizierten Weg verraten könnte, um ihr Leben zu verlängern? Einen Weg, der nicht von Alter, Geschlecht, Herkunft oder der Intelligenz des Einzelnen abhängt. Einen Weg, den eigentlich jeder beschreiten kann. Wäre das nicht geradezu fantastisch?

Eigentlich ist es ganz einfach. Zumindest dann, wenn man den in den letzten Jahren sowohl in Amerika wie auch in Israel erschienenen Studien glauben möchte, die einen positiven Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Besuches von G’ttesdiensten und der Lebenserwartung der Teilnehmer festgestellt haben. Oder noch einfacher ausgedrückt: Je öfter ein Mensch in seinem Leben G’ttesdienste besucht, desto länger lebt er. Und während nach der amerikanischen Studie die Lebenserwartung von Besuchern kirchlicher G’ttesdienste um bis zu sechseinhalb Jahre gesteigert werden konnte, erfreuten sich die regelmäßigen Synagogenbesucher laut der israelischen Studie gar einer um 16 Prozent höheren Lebenserwartung.

Ohne die Studien und deren Ergebnisse nun wissenschaftlich exakt und umfassend analysieren zu wollen und ohne einen ungesunden Lebenswandel zugunsten von G’ttesdienstbesuchen zu propagieren, scheinen diese Erhebungen etwas zu bestätigen, was bereits in früheren Untersuchungen wiederholt festgestellt werden konnte: Die Teilnahme an G’ttesdiensten und vor allen Dingen das Beten haben positive, gesundheitsfördernde und lebensverlängernde Eigenschaften.

wissen Eigentlich eine revolutionäre Erkenntnis, die normalerweise dazu führen müsste, dass der Staat, Gesundheitsministerien, Krankenkassen und Ärztevereinigungen geschlossen zum regelmäßigen Besuch von G’ttesdiensten aufrufen. Offen gesagt habe ich allerdings meine Zweifel, ob dies in absehbarer Zukunft geschehen wird. Und ein Blick in eine beliebige Synagoge während eines Schabbatg’ttesdienstes verrät mir, dass sich dieses Wissen auch unter Juden noch nicht flächendeckend herumgesprochen hat.

Ja, selbst diejenigen, die am Schabbat in die Synagoge kommen, tun dies nicht immer, um zu beten, wie eine Anekdote bezeugt, die der amerikanische Schriftsteller Harry Golden über seinen sozialistischen und atheistischen Vater erzählte: Mr. Golden senior ging jeden Abend in die Synagoge, um am gemeinsamen G’ttesdienst, dem Maariv, teilzunehmen, bis ihn sein Sohn eines Tages fragte, warum er als überzeugter Atheist, der weder an G’tt noch an die gesprochenen Gebete glaube, denn Tag für Tag in die Synagoge gehe. Sein Vater habe darauf geantwortet: »Kennst du meinen guten Freund Ginsburg? Er geht täglich in die Synagoge, um sich mit G’tt zu unterhalten. Ich dagegen gehe jeden Tag in die Synagoge, um mich mit Ginsburg zu unterhalten.«

So oder so: Die Einsichten führen uns auf geradem Weg zu einer tragenden Säule des praktizierenden Judentums: dem Gebet. Und obwohl das Gebet zu den existenziellen Grundlagen jüdischen Lebens gehört, hat es in der säkularisierten Spaßgesellschaft, in der persönliche Entfaltung und individuelle Freiheit jüdische Ideale wie Demut, Mitmenschlichkeit und Verantwortung nach und nach verdrängen, merklich an Anziehungskraft verloren.

Diese uralte Form der Annäherung an den Ewigen, dieser Ausdruck der Verbindung mit G’tt, der quer durch die Geschichte der Menschheit bezeugt ist, wird oft als nicht mehr zeitgemäß oder zu starr wahrgenommen und muss sich dem Vorwurf aussetzen, wahre Spiritualität wegen der festgelegten Gebetsordnungen und der vorformulierten Gebete im Judentum sogar zu verhindern.

Was ist also das jüdische Gebet? Woher kommt es, und warum beten wir? Nützt unser Gebet, und wenn ja, wem? Braucht G’tt unsere Gebete, und weiß er nicht ohnehin schon im Voraus, was wir beten? Und wenn das so ist, warum beten wir dann überhaupt zu ihm? Und glauben wir ernsthaft, dass der Ewige eine Art g’ttlicher Flaschengeist ist, der uns unsere Wünsche erfüllt, wenn wir nur lang und intensiv genug darum bitten?

kommunikation Jüdisches Gebet ist der intimste Ausdruck einer Kommunikation mit G’tt. Es ist die vordergründig einfachste und gleichzeitig anspruchsvollste Form einer Verbindung mit dem Ewigen. In der Tora ist als positive Pflicht formuliert, als Dienst des Herzens, was den Rabbinen zufolge das Gebot des Betens meint. Awraham tat es, Jizchak tat es, und Jakow tat es. Mosche tat es und ebenso Daniel, von dem es im gleichnamigen biblischen Buch heißt, dass er drei Mal täglich betete.

Die ursprüngliche Form allerdings unterschied sich mitunter deutlich von der uns heute bekannten, strukturierten und sorgsam komponierten Gebetsfolge, wie wir sie in unserem Siddur, dem Gebetbuch, vorfinden. Sie ist vielmehr einer Evolution geschuldet, die wohl mit der Zerstörung des Tempels ihren Anfang nahm und die das tägliche Gebet als Ersatz für die Opferhandlungen, die morgens und nachmittags im Tempel stattfanden, etablierte. Es waren Esra und die Männer der großen Versammlung, die vor gut 2400 Jahren den Grundstein dessen legten, was in stetiger Fortentwicklung bis heute Grundlage eines jüdischen G’ttesdienstes ist.

Und obwohl der äußere Rahmen im Laufe der Jahrhunderte vielfältige Änderungen und Anpassungen erfahren hat, blieb der Kern der zentralen und wichtigsten Gebete, der Amida und des Schma Israel, seit talmudischen Zeiten im Wesentlichen unverändert.

Warum aber beten wir nun eigentlich? Und was wollen wir mit unseren Gebeten bezwecken? Glauben wir tatsächlich, von G’tt etwas erbitten zu können, was dieser uns nicht ohnehin hätte zukommen lassen, wenn er denn gewollt hätte? Erwarten wir also ernsthaft, seine Meinung noch ändern zu können, wenn wir nur hartnäckig genug darum bitten?

bedeutung Das Wort Beten, das mit dem Begriff »Bitten« artverwandt ist, scheint dies zumindest nahezulegen. Im Hebräischen allerdings offenbart sich bei näherer Betrachtung noch eine ganz andere Bedeutung. Das hebräische Wort für Beten heißt nämlich »lehitpallel«. Und das wiederum ist ein reflexives Verb, was so viel bedeutet wie »sich prüfen« oder »sich beurteilen«.

Es geht also weder darum, die Gebete mechanisch herunterzurasseln, noch darum, währenddessen unbedachte geistige Wunschzettel abzuschicken, sondern vielmehr darum, mit sich selbst, seinen Wünschen und seinem Verhalten ernsthaft und eindringlich ins Gericht zu gehen.

Wir sind angehalten zu prüfen, ob unsere Bitten und Wünsche tatsächlich notwendig und angemessen sind. Ob unser alltägliches Verhalten unseren Idealen auch wirklich entspricht. Und ob der persönliche und der vom Judentum geforderte Anspruch sowie die gelebte Realität deckungsgleich sind, sich zumindest angenähert haben oder stattdessen auseinanderklaffen.

Zu diesem Zweck sprechen wir Gebete wie die Amida, das zentrale Achtzehngebet, in dem wir uns die Eigenschaften
G’ttes vor Augen führen und damit nicht nur den Ewigen loben, sondern gleichzeitig einen Anspruch an uns selbst formulieren.

Wir alle sind im Ebenbilde G’ttes geschaffen, und es ist an uns, die damit verbundene Mission von Tikkun Olam, der Verbesserung der Welt, voranzutreiben.

Wir loben, bitten und danken G’tt und versuchen gleichzeitig, Reflexionen seiner Barmherzigkeit, Gnade und Liebe auf uns selbst zu spiegeln. Und wir tun noch etwas anderes: Wir bemühen uns, der bekannten Forderung des römischen Dichters Horaz, also »Carpe diem«, diesem »Lebe den Tag«, bestmöglich nachzukommen.

Das Judentum hat durch das tägliche Morgen-, Nachmittag- und Abendgebet ein System geschaffen, das zeitgenössische Glücksforscher mit Blick auf Horaz’ Credo in Verzückung geraten lassen müsste. Denn die Gebete, die wir regelmäßig sprechen, beinhalten nicht nur Lob und Bitte, sondern vor allem auch Dank. Sie halten uns dreimal täglich an, uns aus dem alltäglichen Stress auszuklinken und echte Dankbarkeit auszudrücken. Dank für die Wunder dieser Welt, Dank für das Wunder des Lebens, Dank für die eigene Gesundheit und die der Familie. Dank für das persönliche Wohlergehen und das der Angehörigen und Freunde.

demut Es heißt, dass Menschen, die dem Tode nahe waren und überlebt haben, die nach einer schweren oder gar lebensbedrohlichen Krankheit wieder genesen sind, die nach schmerzhaften Verlusten wieder Kraft geschöpft haben, sich vornehmen, ihr Leben fortan bewusster zu leben. Um mit mehr Demut und tiefer Dankbarkeit durchs Leben zu gehen. Das Empfinden dafür zu schärfen, dass Leben, Gesundheit und Wohlergehen Geschenke sind, für die man nicht dankbar genug sein kann.

Das Judentum schafft diese Erkenntnis durch Gebete. Indem man sich regelmäßig kleine Inseln der Zeit verschafft, um sich dieser Geschenke bewusst zu werden und dafür zu danken. Denn nichts davon ist selbstverständlich.

Durch dieses Bewusstsein, diese Dankbarkeit und diese Selbstbegutachtung, die ihre Grundlage im regelmäßigen und systematisierten Gebet haben, wandelt sich unser Blick auf uns selbst und unsere Mitmenschen, justieren wir unsere Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen, verändern wir uns und unser Handeln. Darin liegt die wahre Kraft des Gebetes. Es ändert nicht G’tt, es ändert uns selbst.

Und das dürfte wohl auch einer der Gründe für die positive Wirkung des Gebetes und die längere Lebenserwartung von G’ttesdienstbesuchern sein. Doch seien Sie beruhigt: Wenn Sie noch ungeübt im jüdischen Gebet sind und das tägliche Beten Sie überfordert, reicht – zumindest nach den vorliegenden Studien – auch erst einmal der wöchentliche Besuch der Synagoge am Schabbat. Und bekanntlich führen ja auch kleine Schritte zum Ziel.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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