24. Dezember

Kerzen am Leuchter, Kerzen am Baum

»Weihnukka« oder »Channumas«? Foto: Thinkstock

Am 24. Dezember sind wir mit einem Zufall konfrontiert, sofern man an Zufälle glaubt: Das Zünden der ersten Chanukkakerze fällt auf Heiligabend. Zuletzt war das 1978 der Fall, davor 1940 und 1872. Die nächste Koinzidenz steht uns 2027 und 2073 bevor. Daher wirkt die Frage, die sich jedes Jahr zur Weihnachtszeit stellt, diesmal besonders aktuell: Inwieweit darf sich ein Jude in Deutschland wie ein »normaler« Deutscher verhalten? Welche Teile der »Leitkultur« sind relativ harmlos – und welche könnten Gott in Rage bringen und zu einer Wiederholung des Churban, der Zerstörung des Tempels, führen?

Doch halten wir kurz inne – warum immer wieder diese end- und ziellose Debatte? Alle wissen doch, wir leben in einer beinahe postchristlichen europäischen Gesellschaft, in der ein Weihnachtsmann jeden Kunden im Geschäft begrüßt und in der Firmen seit Ende September ihre Geschäftsessen organisieren. Als ich noch Gemeinderabbiner in Berlin war, habe ich kein »Chanukkagelt«, sondern Weihnachtsgeld erhalten.

Essen Am 24. Dezember werden Juden und Christen also ihre Kerzen anzünden – die einen auf der Fensterbank, die anderen am Baum. Natürlich gibt es Unterschiede: Chanukka dauert acht Tage, Weihnachten fast acht Monate. An Chanukka soll man viel essen und trinken und feiern und Geschenke geben, während an Weihnachten ...

Naja, vielleicht ist der Unterschied doch nicht so groß? Trotzdem halte ich nichts von Synkretismen wie »Weihnukka« oder »Channumas«. Die beiden Religionen sind sehr unterschiedlich. Chanukka feiert einen militärischen Sieg über Andersdenkende, während Weihnachten (theoretisch) an die Geburt eines jüdischen Messias erinnert. Lange her und weit weg.

Betrachten wir die Frage also aus einer anderen Perspektive. Was bedeutet Weihnachten? Eine Gefahr für Juden? Ist es überhaupt noch ein christliches Fest? Ich meine, sein Charakter ist heute eher heidnisch als christlich geprägt. Das macht es für Juden zwar nicht besser. Doch wozu sollten wir an der (derzeit noch herrschenden) »Leitkultur« herumnörgeln? Das ist doch gar nicht nötig. Wir könnten stattdessen die Werbetrommel rühren und unsere christlichen Mitbürger einladen: »Kommen Sie zu uns! Feiern Sie mit uns, wie Jesus Chanukka gefeiert hat!« Ich schlage eine »Nacht der offenen Synagogen« mit Sufganiot und Glühwein vor (wobei sich natürlich die Frage stellt, ob eine Flasche für acht Tage reicht). Es ist gar nicht lange her, dass viele deutsche jüdische Familien noch einen Weihnachtsbaum hatten. In England entwickelte sich diese Tradition aus einem Geschenk Norwegens an Königin Viktoria. In Aruba in der Karibik, wo ich früher als Rabbiner arbeitete, war es eine jüdische Geschäftsfrau, die den ersten Weihnachtsbaum auf die Insel brachte – und sie war erfolgreich!

Talmud Das Grundproblem für uns Juden ist heute ein ganz anderes: Chanukka ist in gewisser Weise auch ein Fest der Intoleranz – eine Erinnerung an den Bürgerkrieg zwischen Fundamentalisten und den Assimilanten (wenn man den Quellen, die wir haben, glaubt). Die Rabbinen schämten sich ein wenig für Chanukka und erwähnten es kaum – im Vergleich zu Purim, das ein ganzes Talmudtraktat ausmacht.

Die Makkabäerbücher I und II blieben außerhalb des biblischen Kanons, und Chanukka wurde durch eine »Wundergeschichte« und als Kinderfest bekannt statt als echter Gedenktag für die Opfer oder ihren Eifer. Nur in Israel blieb Chanukka ein Fest des Nationalismus und eine Feier des Sieges über die inneren und äußeren Feinde. Nur dort hat das Lied Maos Zur wahre Bedeutung, nur dort glaubt man wirklich an »Al Hanissim«. Weihnachten hingegen ist ein säkulares Konsumfest geworden – mit Kinderliedern, Stollen, Rentieren, Hollywoodschmalz und viel zu viel Gänsebraten.

Doch niemand denkt wirklich an die Verzweiflung einer ganzen Bevölkerungsgruppe im Nahen Osten, an ihr Leid unter der Tyrannei, ihre Sehnsucht nach einem Erlöser, einem Retter, an ihre Hoffnung. Das wäre zu unbequem, zu aktuell, nichts für die Kinder.

Beide Feste, Chanukka und Weihnachten, sind in ihrer heutigen Praxis kaum noch religiösen Wurzeln verhaftet. Deswegen sehe ich keinen Grund, Juden zu verbieten, mit ihren nichtjüdischen Familienmitgliedern ein gemeinsames Familienfest zu genießen. Warum sollte man nicht einige Tage frei nehmen, alte Filme anschauen, die Schwiegereltern behelligen und nach den Feiertagen alle Geschenke umtauschen? Wen stört das?

Also, Chag Sameach! Ich wünsche allen jüdischen und nichtjüdischen Bewohnern dieses Landes ein frohes Festessen und viel Geduld. Und bleiben Sie ruhig, es dauert nur noch wenige Wochen, bevor wir uns mit der essenziellen Sorge um pesachdike Ostereier beschäftigen müssen.

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