Jom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag – ein Tag der Einkehr, des Fastens und der Versöhnung. Doch bevor die ergreifende Melodie des Kol Nidrei erklingt, flankieren drei unauffällige Zeilen das Kol Nidrei. Sie sind eine Art Einleitung: »Mit Erlaubnis des himmlischen und irdischen Gerichts, mit Zustimmung Gottes und der Gemeinde, erklären wir es für erlaubt, mit den Sündern zu beten.«
Dieser Satz fordert mich jedes Jahr aufs Neue heraus. Warum beginnt der heiligste Abend des Jahres ausgerechnet so? Könnte man ihn nicht etwas einladender, freundlicher starten, im Stil von: »Schön seid ihr alle da…« oder »Wir laden alle ein, sich dem Gebet und einander zu öffnen…«. Oder vielleicht in moderner Sprache ausgedrückt: »Herzlich willkommen zum 25-stündigen spirituellen, digitalen und körperlichen Detox – ohne Essen, ohne Internet, aber mit direkter Verbindung nach oben…«.
Doch nein, wir beginnen mit einem Satz, der mehr wie ein juristischer Disclaimer daherkommt: »Es ist heute erlaubt mit den Sündern zu beten.« Was steckt in diesen Worten, die wir seit Jahrhunderten sagen? Wer sind überhaupt diese »Avaryarnim«, diese Sünder? Und wer sind wir, die ihnen erlauben dabei zu sein?
Steckt bei Jom Kippur nicht etwa die Idee dahinter, dass wir alle für unsere Sünden um Vergebung bitten? Nobody is perfect… In Wahrheit sind wir doch alle »Avaryanim«, Menschen mit ihren Fehlern und Schattenseiten oder mit Ereignissen in der Vergangenheit, auf die wir nicht stolz sind. Jom Kippur soll nicht die Bühne sein, auf der wir uns erlauben, uns über andere erheben. Jom Kippur ist der Tag, an dem wir alle gemeinsam als unvollkommene Seelen vor G’tt treten.
Der Bann der Ausgeschloßenen
Wie sollen wir also diesen seltsamen Einstiegssatz verstehen? »Wir erklären es für erlaubt, mit den Sündern zu beten.« Bereits im Mittelalter wurde dieser Satz vor dem Kol Nidrei gesprochen und mit »Avaryanim« waren jene gemeint, die im sogenannten Cherem (Bann) also von der jüdischen Gemeinschaft exkommuniziert oder ausgeschlossen waren, weil sie etwas Schlimmes verbrochen hatten. Dieser Bann war ziemlich hart: Zum Ausgeschlossenen sprach niemand mehr, er war sozial isoliert und in der Synagoge nicht mehr willkommen. Persona non grata also. In manchen Kreisen wird das bis heute praktiziert.
Es gibt weit mehr, was uns verbindet, als was uns trennt.
Trotzdem wollten die Rabbiner gerade an Jom Kippur auch diesen Ausgestoßenen die Tür öffnen, um auch ihnen die Möglichkeit zur Rückkehr (»Teschuwa«) zu geben.
Der Talmud (Keritut 6b) bringt dafür ein starkes Bild: »Jedes Fasten, das die Sünder Israels nicht einschließt, ist kein Fasten. Denn Galbanum stinkt, und dennoch gehört es zu den Gewürzen des Räucherwerks.«
Keine Zutat darf fehlen
Auf den ersten Blick wird vielleicht nicht ganz klar, was Jom Kippur mit dem stinkenden Gummiharz verbindet. Aber die Erklärung dazu ist folgende: Zu Zeiten des Tempels gab es ein Räucherwerk, das »Ketoret«, das aus elf Zutaten bestand. Zehn davon dufteten wunderbar. Nur eine – eben dieses Galbanum (»Chelbena«) – roch allein ziemlich übel (so zusagen wie roher Knoblauch in der Küche). Doch in der Mischung mit den anderen Düften wurde der üble Galbanum-Geruch nicht nur neutralisiert, sondern verbesserte sogar den Duft im Gesamten (also wie Knoblauch in einer guten Spaghettisauce). Das Räucherwerk im Tempel wäre also ohne diese eine Zutat, dem Galbanum, unvollständig gewesen.
Meiner Meinung nach ist das eine der schönsten Metaphern im Talmud, mit einer kraftvollen Botschaft: Selbst die »Avaryanim«, also diejenigen, die gesündigt, verraten oder betrogen haben, gehören zu uns. Sie sind Teil des Ganzen, der Einheit also. Auch sie haben das Recht auf Rückkehr – zu G’tt und in unsere Gemeinschaft.
Spaltung bis ins Kleine
Diese uralte Einsicht könnte nicht treffender sein für unsere Welt, die aktuell stark von Schwarzweiß-Denken und Polarisierung infiltriert wird. Natürlich wäre es bequemer, den Raum nur mit Gleichgesinnten zu teilen. Aber wir leben in einer Welt voller Echo-Kammern und Filterblasen. WhatsApp-Gruppen, Newsfeeds und Algorithmen, die unsere Sicht einengen, beliefern uns ununterbrochen mit Informationen. Wer anders denkt, wird schnell zum »Avaryan«, zum Feind erklärt – ausgeschlossen, gecancelt, manchmal sogar mit Hass oder Gewalt bekämpft! Das ist – leider – Teil unserer Realität.
Und diese Spaltung spüren wir nicht nur global, sondern auch im Kleinen. Das geht bis in die Gemeinde hinein. Aber Jom Kippur ruft uns dazu auf, auch mit all jenen zu beten und zusammenzukommen, die wir vielleicht am liebsten ausschließen würden.
Der Blick des Verbindenden
Ja, es gibt Grenzen. Nämlich dann, wenn extremistische Positionen eingenommen werden, die ehrlichen Dialog verunmöglichen. Trotzdem bin ich zutiefst überzeugt: Es gibt weit mehr, was uns verbindet, als was uns trennt.
Insbesondere auch, wenn wir das Gespräch auf Israel lenken – ein Thema, das in der Gemeinde, in Familie und Freundeskreis zu heftigen Spannungen und tiefen Gräben führen kann – brauchen wir diesen klaren Blick auf das Gemeinsame, das Verbindende. Denn wir sorgen uns um Israels Wohlergehen. Wir beten für die Geiseln – in der Hoffnung, dass ihre Freilassung bald geschieht. Wir trauern um die Opfer in unseren eigenen Reihen. Und wir können zugleich Mitgefühl für alle unschuldigen Menschen zeigen, die unter diesem Krieg leiden.
Ich wünsche mir für unsere Gemeinschaft, dass es uns gelingt, Räume zu schaffen, in denen ehrlicher, respektvoller, gewaltfreier Dialog möglich ist.
Dieses Mitgefühl zeigt keinesfalls Schwäche, sondern ist Ausdruck unserer Menschlichkeit. Darum können wir – trotz unterschiedlicher politischer Ansichten – gemeinsam beten und hoffen, dass sich die Lage endlich zum Guten wendet, selbst wenn der Weg bis dorthin noch lang und steinig sein mag.
Nur indem wir Einheit wahren und Spaltung verhindern, gelingt uns die Balance zwischen »Emet« und »Schalom«, zwischen unserer individuellen Wahrheit und dem gemeinsamen Frieden. Am Jom Kippur gehen wir noch einen Schritt weiter, der Aspekt der Versöhnung ist zentral. Ich wünsche mir für unsere Gemeinschaft, dass es uns gelingt, Räume zu schaffen, in denen ehrlicher, respektvoller, gewaltfreier – und vor allem versöhnender – Dialog möglich ist.
Vollständig wie das Räucherwerk
Jom Kippur ruft uns nicht dazu auf, mit dem Finger zu zeigen, zu beschuldigen, einander anzuschreien oder zu ignorieren. Er mahnt uns mit folgender Forderung: Nämlich genau mit diesen Menschen, die wir nicht zu unserer Mitte zählen, zu beten oder sogar Versöhnung zu suchen.
Dass dies nicht einfach ist, scheint klar. Denn jede und jeder von uns weiß, wie schwierig es ist, Brücken zu bauen, wie verletzend Worte sein können, selbst wenn sie nicht böse beabsichtigt waren. Aber wir wissen, wie heilsam ein ehrliches Gespräch sein kann. Wie befreiend echtes Zuhören ist. Das bedeutet nicht, jede Meinung zu akzeptieren, aber zumindest den Respekt zu wahren und damit die Einheit und Versöhnung in der Familie, im Volk und in der Gemeinde höher zu werten, als es das Spiel der Schuldzuweisungen uns vorgibt.
Nur so wird unser Gebet auch an diesem Jom Kippur vollständig, so wie das Räucherwerk im Tempel nur mit allen seinen Zutaten vollkommen war. Das ist der uralte »Disclaimer« zu Beginn von Jom Kippur – und vielleicht ist er gerade heute aktueller denn je.
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.