Talmudisches

In dunklen Stunden

Auch wenn man meint, die Hoffnung zu verlieren, soll man nicht aufhören zu beten. Foto: Flash 90

Rabbi Jochanan sagte: »Wer ist ein Kind der kommenden Welt? – Jeder, der die Erlösung mit dem Gebet am Abend verbindet« (Berachot 4b). Um die Aussage Rabbi Jochanans zu verstehen, müssen wir zunächst die Struktur der Liturgie verstehen, und dafür müssen wir in den Text der Tora schauen.

Es ist eines der Gebote in der Tora, zweimal am Tag das Glaubensbekenntnis, das »Schma Jisrael«, zu rezitieren: »Und diese Worte, die Ich dir heute gebiete, sollst du dir zu Herzen nehmen und sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst« (5. Buch Mose 6, 6−8).

Schma Jisrael Aus den Worten »wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst« lernten die talmudischen Weisen, dass man das Schma Jisrael am Abend und am Morgen sprechen soll, also wenn die meisten Menschen sich zum Schlafen niederlegen und wenn sie wieder aufstehen. Das Schma Jisrael ist daher auch ein Teil des Morgengebets und des Abendgebets.

So stellt man sicher, dass es als Teil des täglichen Gebetstextes sowohl am Abend als auch am Morgen rezitiert wird. Wenn fromme Juden das Morgen- und das Abendgebet zu den angeordneten Gebetszeiten verrichten, dann erfüllen sie also auch das Gebot, das Schma Jisrael zu sagen.

Vor und nach dem Glaubensbekenntnis werden, als Teil des Morgen- und Abendgebets, verschiedene Brachot, Segenssprüche, gesagt.

Vor und nach dem Glaubensbekenntnis werden, als Teil des Morgen- und Abendgebets, verschiedene Brachot, Segenssprüche, gesagt. Dadurch soll sich der Mensch gedanklich auf das jeweilige Gebot vorbereiten und G’tt für die Möglichkeit danken, es zu erfüllen.

In dem abendlichen Segensspruch, der nach dem Schma Jisrael gesagt wird, heißt es: »Gelobt seist Du, G’tt, Erlöser Israels«. Dieser Segensspruch wird daher auch »die Erlösung« genannt.

Nach dem Schma Jisrael und den Segenssprüchen, die danach gesprochen werden, betet man das Schmona Essre, das sogenannte Achtzehnbittengebet. Es stellt den Hauptteil des Abend- und Morgengebets dar und wird daher auch als »das Gebet« bezeichnet.

Erlösung Rabbi Jochanan lehrt uns also im Talmud, dass diejenigen, die am Abend das Glaubensbekenntnis sagen, danach den Segensspruch der Erlösung aussprechen und direkt im Anschluss das Schmona Essre beten, zu den Kindern der kommenden Welt gehören. Das heißt, sie werden Anteil am ewigen Leben haben.

Es ist zunächst nicht ganz verständlich, warum Rabbi Jochanan genau dies als derart wichtig erachtet, dass er die Garantie des ewigen Lebens damit verbindet.

Zahlreiche Kommentatoren befassten sich mit Rabbi Jochanans Worten. Wenn man sie unabhängig vom religionsgesetzlichen Kontext der talmudischen Diskussion betrachtet, so ergibt sich eine mögliche neue Interpretation. »Jeder, der die Erlösung mit dem Gebet am Abend verbindet«, heißt: Jeder, der das Gebet am Abend sagt, also in der Dunkelheit auf den Ewigen vertraut und darin die Wurzel der eigenen Erlösung sieht, ist ein Kind der kommenden Welt.

Abgrund Mit »Abend« sind die dunkelsten Stunden gemeint, Zeiten, da man die Hoffnung verliert und am gefühlten Abgrund steht und nicht mehr hofft, erhört zu werden. In diesen Zeiten soll das jüdische Volk das Gebet nicht verlassen und im Gespräch mit dem Schöpfer die kommende Erlösung, die Errettung aus der Dunkelheit, visualisieren. In diesen Momenten soll man daran denken, dass auch die dunkelsten Stunden vergänglich sind und die starke Hand G’ttes uns aus dem Abgrund befreien kann.

Rabbi Nachman von Bratzlaw beschrieb diese Geisteshaltung der Hoffnung mit den Worten: »Selbst in der Verborgenheit des Schöpfers, die sich in einer noch größeren Verborgenheit des Schöpfers befindet, selbst dort ist G’tt, gelobt sei Er.« Rabbi Jochanan bezeichnet den Menschen, der das Gebet am Abend mit der Erlösung verbindet, daher als »Kind der kommenden Welt«.

Chanukka

Das jüdische Licht

Die Tempelgeschichte verweist auf eine grundlegende Erkenntnis, ohne die unser Volk nicht überlebt hätte – ohne Wunder kein Judentum

von Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky  12.12.2025

Wajeschew

Ein weiter Weg

Das Leben Josefs verlief nicht geradlinig. Aber im Rückblick erkennt er den Plan des Ewigen

von Rabbinerin Yael Deusel  12.12.2025

Talmudisches

Nach der Sieben kommt die Acht

Was unsere Weisen über die Grenze zwischen Natur und Wunder lehren

von Vyacheslav Dobrovych  12.12.2025

Chanukka

Nach dem Wunder

Die Makkabäer befreiten zwar den Tempel, doch konnten sie ihre Herrschaft nicht dauerhaft bewahren. Aus ihren Fehlern können auch wir heute lernen

von Rabbiner Julian-Chaim Soussan  12.12.2025

Quellen

Es ist kompliziert

Chanukka wird im Talmud nur selten erwähnt. Warum klammerten die Weisen diese Geschichte aus?

von Rabbiner Avraham Radbil  11.12.2025

Religion

Israels Oberrabbiner erstmals auf Deutschlandbesuch

Kalman Ber startet seine Reise in Hamburg und informiert sich dort über jüdisches Leben. Ein Schwerpunkt: der geplante Neubau einer Synagoge

 10.12.2025

Thüringen

Jüdische Landesgemeinde und Erfurt feiern Chanukka

Die Zeremonie markiert den Auftakt der inzwischen 17. öffentlichen Chanukka-Begehung in der Thüringer Landeshauptstadt

 08.12.2025

Wajischlach

Zwischen Angst und Umarmung

Die Geschichte von Jakow und Esaw zeigt, wie zwei Brüder und zwei Welten wieder zueinanderfinden

von Rabbiner Joel Berger  05.12.2025

19. Kislew

Himmlischer Freispruch

Auch wenn Rosch Haschana schon lange vorbei ist, feiern Chassidim dieser Tage ihr »Neujahr«. Für das Datum ist ausgerechnet der russische Zar verantwortlich

von Chajm Guski  05.12.2025