Jehuda Ha-Nasi

In der Nähe des Heiligen

Rabbi Jehuda ha-Nasi ist unter zwei weiteren Namen bekannt. Im Talmud wird er meist nur »Rabbi« genannt und daneben auch »Rabbenu ha-Kadosch«, unser heiliger Rabbi. Er war der Oberrabbiner der fünften Generation der Mischnalehrer, der Tannaiten. Außerdem übernahm er mit 27 Jahren das Amt des Nasi, des Präsidenten im Sanhedrin. In dieser Position folgte er seinem Vater Rabbi Schimon ben Gamaliel, dessen ältester Sohn er war.

Nach einer Legende heißt es, dass Jehuda an dem Tag geboren wurde, als Rabbi Akiva im Jahr 135 starb. Im Bild von Kohelet 1,5 gesprochen: »Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie dort wieder aufgehe.« So wie Raschi geboren wurde, als Rabbi Gerschom starb, blieb Israel auch nach dem Tod Rabbi Akivas nicht ohne spirituelle Führung. Jehuda trat seine Nachfolge an.

LEGENDE Im späten zweiten Jahrhundert stand das palästinische Judentum unter römischer Herrschaft. Die Beschneidung war verboten. Als man den Neugeborenen in den römischen Palast brachte, war das Kind nicht beschnitten. Die Mutter des späteren Caesar Antoninus hatte ihr eigenes Kind für Jehuda ausgegeben, so die Legende. Beide Kinder sollte eine lebenslange Freundschaft verbinden.

Jehuda lernte schon in jungen Jahren Tora von den Schülern Rabbi Akivas. Er wanderte von Jeschiwa zu Jeschiwa und studierte die verschiedenen Lehrtraditionen. Zu seinen Lehrern gehörten die Rabbiner Eleasar ben Schammua und Schimon bar Jochai in Tekoa und besonders der Freund seines Vaters, Rabbi Jaakov bar Karschei.

Seine Stellung als Präsident des Sanhedrins, die Protektion durch seinen römischen Freund Caesar Antoninus und das hohe Niveau seiner Kenntnis der jüdischen Lehrtraditionen waren die Voraussetzung für seine abschließenden Arbeiten an der Mischna. Er knüpfte dabei an Vorarbeiten Rabbi Akivas und Rabbi Meirs an. Die Stunde für dieses Unternehmen war koscher, weil der Friede in Judäa nach dem Bar-Kochba-Aufstand nach 135 wiederhergestellt war.

KODIFIZIERUNG In Zusammenarbeit mit anderen Rabbinern, die er um sich versammelte, leitete er die Schlussredaktion für die Sammlung und Kodifizierung der mündlichen Lehrsätze ein. Diese Sammlung, die Mischna, sollte als kodifizierte mündliche Tora die schriftliche Tora ergänzen und näher bestimmen. Dazu wurden von ihm die Kommentare nicht nur gesammelt, sondern auch systematisiert und nach Themen geordnet. So entstanden die sechs Ordnungen der Mischna, die in Traktate aufgeteilt sind. Sie umfasst so gut wie die ganze Halacha, nach der sich das Leben des Volkes Israel mit Gott und im zwischenmenschlichen Bereich ausrichten soll.

Die Mischna ist in exaktem und reinem Hebräisch geschrieben. Ihre Theologie verleiht dem Judentum seine Seele. Durch seine gesellschaftliche Stellung, seinen Einfluss und die Achtung und Liebe, die Rabbi entgegengebracht wurde, kam es in allen Schulen zur Akzeptanz seiner Mischna. Die Einheit der Mischna führte zur Einheit des Volkes Israel und festigte es in seiner Integrität.

BET SCHEARIM Rabbi ließ sich in Bet Schearim im Südwesten Untergaliläas nieder. Dorthin verlegte er auch das Sanhedrin und gründete seine bedeutende Jeschiwa, in deren Umgebung sich viele Rabbiner ansiedelten.

Rav und Rabbi Chanina bar Chamar gehörten zu seinen besten Schülern. Rav gelangte zu der Überzeugung: »Wenn der Messias unter den Lebendigen ist, ist er Rabbenu ha-Kadosch« (Babylonischer Talmud Sanhedrin 98,2). Und im Traktat Gittin 59,1 lesen wir: »Von den Zeiten Mosches bis zu den Tagen Rabbis waren Tora und weltliche Größe nicht in einer Person vereinigt.«

Rabbi Jochanan und Risch Lekisch sagten über sich selbst: »Wir haben die Tora gewonnen, weil wir die Finger der Hände Rabbis gesehen haben« (Jerusalemer Talmud, Beitza, 85,2).

In dürren Jahren unterstützte Rabbi seine Studenten finanziell und bemerkte dazu: »Die Bibel-, die Mischna-, die Talmud- und die Halachaschüler sollen hereinkommen und lernen, aber die Unwissenden sollen die Schule nicht betreten.« Wenn die Jeschiwaschüler die Lust zum Lernen verloren hatten, bemühte er sich darum, sie wieder zu motivieren.

Seinen eigenen Reichtum hat er nie genossen. Er blieb ein zutiefst bescheidener Mensch. Bevor er starb, streckte er seine zehn Finger Richtung Himmel und sagte: »Herr der Welt, du weißt genau, dass ich mit diesen zehn Fingern in der Tora geackert und ich nicht einmal mit dem kleinen Finger genossen habe« (Jerusalemer Talmud 104,1).

Wenn die Jeschiwaschüler die Lust zum Lernen verloren, bemühte er sich, sie wieder zu motivieren.


Vor dem Gebrauch von Laschon Hara sah er sich vor. Die Werke anderer Rabbiner schätzte er höher ein als seine eigenen. Obwohl er in den Angelegenheiten seines politischen Amtes streng agierte, war er zartbesaitet und ließ sich im Mitleid gegenüber Menschen und Tieren zu Tränen rühren.

HEILIGUNG Die Heiligung war geradezu das Thema seines Lebens, und so kann es nicht verwundern, dass ihm der Titel des »Rabbenu ha-Kadosch« (Babylonischer Talmud, Schabbat 118,2) zuteilwurde.

Rabbi Schimon ben Menassija sagt: »Alle sieben Eigenschaften, mit denen unsere Weisen Gerechtigkeit beschreiben, fanden sich bei Rabbi und seinen Kindern wieder: Schönheit, Kraft, Reichtum, Ehre, Weisheit, Alter, Greisenalter und Kinder« (Sprüche der Väter 6,8).

Seine Aussagen, die man in den Sprüchen der Väter findet, zeugen durchweg von Himmelsfurcht, wie wir zum Beispiel in 2,1 lesen: »Rabbi sagt: Welches ist der rechte Weg, den sich der Mensch wählen soll? Derjenige, der zur Ehre gereicht dem, der ihn geht, und ihm auch vor den Menschen Ehre bringt; und sei achtsam bei einem leichten Gebot wie bei einem schweren, denn du kennst nicht die Belohnung der Gebote, und erwäge die Einbuße eines Gebotes im Verhältnis zu seinem Lohn, und den Lohn einer Übertretung im Verhältnis zu ihrer Einbuße. Betrachte beständig drei Dinge, so kommst du nicht in die Gewalt einer Sünde: Wisse, was über dir ist: ein schauendes Auge, ein hörendes Ohr, und dass alle deine Handlungen in das Buch geschrieben werden.«

Rabbi fragte: »Wozu ist im Land Israel die syrische Sprache nötig, entweder spreche man die heilige oder die griechische Sprache« (Babylonischer Talmud, Baba Kamma, 82,2). Er war ein Liebhaber des Hebräischen, das in seinem Haus sogar von den Mägden gesprochen wurde.

Riwka erhält im 1. Buch Mose 25,23 die Verheißung: »Schne’ Goiim bebitnech«, zwei Völker in deinem Leibe. Lesen wir aber hier nicht zwei »Gojim«(Völker), sondern »Gäjim« – und diese zwei stolzen Menschen waren Antoninus und Rabbi. Ihr freundschaftliches Verhältnis brachte Frieden für Israel.

SCHABBATGEWÜRZ Rabbi lehrte den römischen Kaiser das Judentum. So wird erzählt, dass er an einem Schabbat Antoninus ein kaltes Essen servierte. Als er ihm an einem Wochentag eine warme Mahlzeit reichte, sagte sein Freund: »Das kalte Essen am Schabbat schmeckte besser als das warme Essen.« Jehuda antwortete: »Hier fehlt ein Gewürz!« Antoninus entgegnete: »Der König hat alle Gewürze in der Küche!« Darauf sagte Rabbi: »Aber ein Gewürz fehlt ihr – das Schabbatgewürz.«

Zwischen beiden gab es häufig Diskussionen, zum Beispiel über die Frage: »Muss sich der Körper oder die Seele eines Menschen nach dem Tod für die zu Lebzeiten begangene Sünde verantworten?« Oder Antoninus wollte von Rabbi wissen: »Warum geht die Sonne im Osten auf und im Westen unter?« und: »Wann kommt die Seele in den Menschen? Und ab wann herrscht der böse Trieb im Menschen? Wenn Gott bedenkt, ihn zu erschaffen oder bei der Bildung des Embryos? Wann hat der Mensch die Seele bekommen, und ab wann regiert der böse Trieb im Menschen?« (Babylonischer Talmud, Sanhedrin 91,1f.).

Später setzten sich die Rabbiner damit auseinander, ob Antoninus zum Judentum übergetreten sei. Einige von ihnen nahmen das an und sagten, er sei beschnitten gewesen. Rabbi Elazar sagte: Wenn künftig wahre Proselyten kommen, dann ist Antoninus einer von ihnen.

ZIPPORI Wegen seiner angegriffenen Gesundheit verbrachte Rabbi die letzten 17 Jahre seines Lebens in Zippori. Als er dort um 210 verstarb, ordneten unsere Weisen ein Fasten an und flehten um Erbarmen. »Sie bestimmten: ›Wer da sagt, Rabbi sei verstorben, wird durch das Schwert sterben.‹ Unsere Weisen sagten Bar Kappara: ›Geh, sieh nach, wie es ihm geht.‹ Bar Kappara ging hinein und fand ihn tot. Er zerriss seine Kleider und sagte: ›Die Engel und die Frommen erfassten die heilige Lade und sie wurde entführt‹« (Babylonischer Talmud, Ketubot 104,1).

Rabbi Jehuda wurde in Bet Schearim bestattet. Sein Grab ist ein heiliger Ort geworden. Immer wieder ließen sich Menschen auf diesem Friedhof beerdigen, um in seiner Nähe zu ruhen.

In dieser Reihe stellen wir in unregelmäßigen Abständen Talmudgelehrte vor. Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

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