Erinnerung

Immer am Kopf

Die Tefillin sind Voraussetzung und Anstoß für das Gedächtnis

von Rabbiner Netanel Wurmser  21.01.2010 00:00 Uhr

»... und das soll dir zum Zeichen an deiner Hand und zum Gedächtnis zwischen deinen Augen sein« (2. Buch Moses 13,9). Foto: Marco Limberg

Die Tefillin sind Voraussetzung und Anstoß für das Gedächtnis

von Rabbiner Netanel Wurmser  21.01.2010 00:00 Uhr

Der achten Plage, den Heuschrecken, fallen die letzten Überbleibsel des Hagels zum Opfer. Nachdem der Pharao erstmals beim Hagel seine Schuld an der ganzen Misere Ägyptens eingestanden hatte, erklärt er sich erneut für schuldig, ohne jedoch wirklich Reue zu bekunden.

Zumindest begreift er, dass, wenn die Heuschrecken bleiben würden, sein Land nicht nur jetzt, sondern auch in der Zukunft von der Vernichtung bedroht sein würde. Kaum zu fassen ist auch die Chuzpe des Pharao, Mosche und Aharon zu bitten, für ihn zu beten, damit die Plage ein Ende nimmt. Umso mehr muss uns die Charakterstärke und Glaubensfestigkeit von Mosche und Aharon beeindrucken, dass sie wirklich für ihn beten, nachdem er doch unsägliches Leid und große Not über das jüdische Volk gebracht hat. Sicher wussten sie auch, dass der Prozess der Erlösung aus Ägypten keinesfalls abgeschlossen war.

Viele große Wunder geschehen bei der dreitägigen Finsternis und dem Erschlagen der Erstgeborenen durch g’ttliche Hand. Die Überlieferung berichtet, dass die Finsternis um die dritte Tagesstunde begann, damit das Wunder als solches öffentlich erkannt werde, und niemand behaupten könne, die Nacht hätte einfach länger gedauert. Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1806–1888) betont auch die moralische Stärke und sittliche Größe, die die jüdische Bevölkerung den von der Finsternis geplagten Ägyptern zeigte, indem sie nicht einmal eine fremde Stecknadel anrührten. Weder Personen noch Wohnungen wurden in Mitleidenschaft gezogen.

g’tteserfahrungen Die Vorschriften über den Neumond, den Monat Nissan, Pessach-Mizrajim, das Pessachfest sowie die Erstgeborenen prägen unseren Wochenabschnitt. Gleich danach steht: »Und du erzählst dann deinem Kinde an jenem Tage: Um dieses willen hat G’tt für mich gehandelt, als ich aus Ägypten zog« (2. Buch Moses 13,8). Nicht allein das Wissen oder das Lernen machen es aus, dass jüdische Tradition in der nächsten Generation noch einen Stellenwert hat, nein, die Haggada, das Erzählen der G’tteserfahrungen in Ägypten, speziell in der Sedernacht, sorgen dafür, dass der Jugend jüdische Werte vermittelt werden.

Eigentümlicherweise gilt der nächste Vers dem Gebot der Tefillin, der Gebetsriemen: »… und das soll dir zum Zeichen (ot) an deiner Hand und zum Gedächtnis (sikaron) zwischen deinen Augen sein – damit G’ttes Lehre der Inhalt deines Mundes werde« (13,9). Die Tora verknüpft offensichtlich den Auszug aus Ägypten mit dem Gebot der Tefillin.

Die Gebetsriemen der Hand (Tefillin schel Jad) sind ein Zeichen, ähnlich wie der Schabbat, und sie sind Voraussetzung sowie Anstoß für »das Gedächtnis« der Gebetsriemen des Kopfes (Tefillin schel Rosch). Deshalb sollen wir zuerst die Tefillin der Hand anlegen. Gegenüber dem Herzen werden sie am Bizeps fixiert zum steten Zeichen, dass uns der Ewige mit starker Hand aus Ägypten geführt hat. Denn nur der Hand des Ewigen verdanken wir die Wiedererlangung unserer »Hand«.
Die folgende Begebenheit soll uns verdeutlichen, dass die Erinnerung an das reale Eingreifen G’ttes beim Auszug aus Ägypten uns tagtäglich gegenwärtig bleiben soll, wobei das Gebot der Tefillin dabei ein gewichtiges Zeichen setzt.

vom himmel Rabbi Chajim ben Attar (1696–1743), der ursprünglich aus Marokko stammte und nach seinem berühmten Tora-Kommentar »Or Hachajim« genannt wird, lag auf seinem Totenbett, umringt von den besten Ärzten. Sie hatten noch versucht, ihn zu retten, doch jeder verstand, dass er seine Seele bald dem Schöpfer zurückgeben werde. Seine Frau kam an sein Bett und fragte ihn mit tränenerstickter Stimme: »Mein lieber Gatte, wenn du von mir gehen wirst, werde ich ganz allein sein. Wer wird dann für mich sorgen, was wird aus mir werden?«
Mit schwacher Stimme und unter sehr großer Anstrengung erwiderte der Rabbi: »Mach dir keine Sorgen, meine gute und treue Seele. Ich werde es nicht zulassen, dass es dir jemals schlecht gehen wird. Nach meinem Ableben wird hier ein reicher Mann aus Konstantinopel herkommen und dir 300 Dukaten für meine Tefillin anbieten. Das Angebot nimm an, und du wirst bis an dein Ende genug zum Lebensunterhalt haben. Doch eines darfst du auf keinen Fall vergessen. Sag ihm in meinem Namen, dass er, wenn er diese Tefillin angelegt hat, nie und nimmer einen Satz oder Worte, die mit dem Gebet nichts zu tun haben, aussprechen soll. Ermahne ihn deswegen extra, und vergiss dies ja nicht.«

Der Rabbi lehnte sich zurück und verstarb kurze Zeit später. Ganz Jerusalem trauerte um diesen großen Gelehrten. Kaum war die Trauerzeit um, kam tatsächlich ein Geschäftsmann und erwarb sich die Tefillin des »Or Hachajim«. Die Frau erinnerte sich an die letzten Worte ihres Mannes und schärfte dem Käufer nochmals ein, ja würdig mit den Tefillin umzugehen und keine fremden Gedanken oder Worte während des Gebetes zu verlieren.

Der Mann kehrte in die Türkei zurück und hielt sich beim Tragen der Tefillin genau an die Vorgaben. Eines Tages jedoch kam einer seiner Bediensteten in die Synagoge, um mitzuteilen, dass ein wichtiger Kunde in der Firma auf ihn warte. Erst bemerkte der Mann den Bediensteten nicht, doch dann machte sich sein Angestellter bemerkbar, und einige unkontrollierte Worte platzten dem Geschäftsmann heraus, noch bevor er sich wieder seinen Gebeten zugewandt hatte.

Ab diesem Zeitpunkt waren die Dinge anders geworden, seine Gebete waren nicht mehr wie früher. Insbesondere dieses heilige Gefühl, während er die Tefillin trug, war auf einmal verschwunden, aber weshalb? Er konnte es sich nicht zusammenreimen, und wenn schon, dann bestimmt nicht wegen eines scharfen Wortes. Eher vermutete er, dass sich von den Rollen der Tefillin irgendein Buchstabe abgelöst habe und sie vielleicht nicht mehr koscher seien.

Also beschloss er, seine Tefillin von einem Sofer, einem Toraschreiber, kontrollieren zu lassen. Dieser öffnete die Schriftrollen und erstarrte schier dabei. Er blickte auf ein Pergament, auf dem kein Buchstabe mehr zu erkennen war. Alle Buchstaben waren verschwunden. Denn als der Besitzer der Tefillin einen kleinen Moment abgelenkt war und sich seinen Tagesgeschäften zugewandt hatte, hatten Buchstabe für Buchstabe das heilige Pergament verlassen und waren in den Himmel zurückgekehrt.

Der Autor ist ist Landesrabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW).

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