Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

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Rabbi Nachman erzählte einst eine Geschichte: Ein mächtiger König, umgeben von seinen klügsten Beratern, reitet auf die Jagd. Plötzlich bricht ein Sturm los – aber kein gewöhnlicher. Regen wie aus Eimern, manche befürchten gar den Weltuntergang. Seine Berater fliehen in alle Himmelsrichtungen. Der König bleibt allein zurück, durchnässt und verloren. Irgendwo im Nirgendwo findet er Schutz, eine Hütte. Ein einfacher Mann nimmt ihn auf. Gibt ihm trockene Kleidung. Einen Teller heiße Suppe. Und ein Bett neben dem Ofen. Und der König? Er sagt später: »So süß, so tief, so echt hat mir nie etwas geschmeckt.«

Rabbi Nachman, einer der bedeutendsten Rabbiner des Chassidismus, hat seine Geschichten stets erzählt, um uns tiefere Botschaften zu vermitteln, von denen viele auch auf unser modernes Leben anwendbar sind. Heute reiten wir nicht mehr so oft durch Wälder. Wir surfen durchs Internet, scrollen durch Feeds. Wir sind immer noch auf der Jagd – nach Antworten in Sekunden.

Unsere heutigen Berater sind klüger als je ein Mensch

Zur Seite stehen uns keine menschlichen Berater, sondern immer häufiger die Künstliche Intelligenz – klüger als je ein Mensch. Google AI, ChatGPT, Midjourney, Claude, Perplexity – sie alle begleiten viele von uns bereits im Alltag und wissen auf jede noch so schwierige Frage eine Antwort. Doch was geschieht, wenn ein Sturm aufzieht?

Die ersten Studien warnen uns vor dem Strudel, in den wir durch die übermäßige Nutzung von Künstlicher Intelligenz geraten können. Eine Untersuchung im »International Journal of Educational Technology in Higher Education« zeigt auf, dass eine Abhängigkeit von KI-Tools zu geringerer Selbstständigkeit, höherem Leistungsdruck und problematischem Nutzungsverhalten führen kann. Eine andere Studie im »International Journal of Mental Health and Addiction« belegt, dass ein exzessiver Gebrauch generativer KI mit Stress, Angst und verminderter Selbstkontrolle verbunden sein kann.

Damásio erkannte: Der Mensch entscheidet nicht trotz, sondern dank seiner Emotionen.

Wo alle Wege möglich sind, verlieren wir den Kompass. Statt des Regens prasselt Wissen eimerweise auf uns ein, aber wir haben verlernt, eigenständig einen Schirm aufzuspannen. Dass Wissen allein uns nicht weiterbringt, zeigte schon António Damásio in seinem Bestseller Descartes’ Irrtum. Der Neurowissenschaftler und Psychologe beschreibt darin seinen Patienten Elliot.

Nach einer Gehirnoperation war dieser hochintelligent wie zuvor – aber unfähig, sich zu entscheiden, egal ob es sich um ein Radioprogramm oder eine Stiftfarbe handelte. Alles war für ihn gleich. Der Grund: Er fühlte nichts mehr. Seine Gehirnareale, die für Emotionen zuständig sind, waren geschädigt. Damásio erkannte ganz richtig: Der Mensch entscheidet nicht trotz, sondern dank seiner Emotionen. Ohne Gefühl ist der Verstand blind.

Auch ein Gefühl kann uns täuschen

Doch es gibt jene, die zu Recht einwenden, dass auch ein Gefühl uns täuschen kann. Das stimmt. Darum braucht der Mensch beides – Gefühl und Verstand. Rabbi Nachman nennt das die Begegnung der zwei Lichter. Das eine ist das »Or Pnimi«, das innere Licht, das in uns Helligkeit schafft und unsere Gefühle sichtbar macht. Das andere das »Or Mekif,« das äußere Licht, das die Umwelt rational ausleuchtet.

Erst wenn sie beide aktiviert sind, kann das Denken klar werden. Wenn wir hingegen die Maschine für uns denken lassen, übernimmt ausschließlich das Kalkül das Ruder. Es werden Entscheidungen ohne Wärme, ohne Orientierung und blind gegenüber dem, was uns wichtig ist und wie wir die Welt sehen, getroffen. Kurzum, unser eigenes Leben entgleitet uns.

Hollywood hat es längst erzählt

Man braucht keine Talmudkenntnisse, um das zu verstehen. Auch Hollywood hat es veranschaulicht. Im Film »Her« sucht Theodore, allein, verletzt von der Liebe, nach Nähe. Er findet sie in einer Stimme, Samantha. Die KI hört zu, lacht, tröstet ihn – und irgendwann glaubt er: Das ist Liebe.

Doch am Ende zerbricht alles. Sie gehört nicht ihm, sondern allen – Millionen. Ihr »Ich liebe dich« ist kein Bekenntnis, sondern eine logische Antwort des Algorithmus. Als sie verschwindet, bleibt er allein zurück.
Im Oscar-Gewinner Everything Everywhere All At Once lernen wir, was der Ausweg daraus ist. Die Protagonisten rasen durch Universen der Möglichkeiten. Sie glauben: Wenn sie jede potenzielle Erfahrung, all die gesammelte Intelligenz akkumulieren, dann können sie das Böse aufhalten. Doch am Ende zählt nur eine Umarmung zwischen Tochter und Mutter, die sich nie ihre Liebe zeigen konnten. Maschinen sind brillant. Aber retten wird uns das Menschliche.

Rabbi Nachman fasst es in seiner Geschichte zusammen: Der Sturm der Endzeit ist in Wahrheit kein Regen – es ist eine Flut aus Gedanken, aus Zweifeln. Nicht Wasser überschwemmt die Welt, sondern »Apikorsut« – der kalte Verstand, der alles hinterfragt und an nichts mehr glaubt.
Und kein Berater wird den König retten – nur der einfache Mensch mit einem warmen, gläubigen Herzen.

Nicht Wasser überschwemmt die Welt, sondern »Apikorsut« – der kalte Verstand, der alles hinterfragt und an nichts mehr glaubt.

Vielleicht bist du selbst dieser König. Vielleicht hast du viele Berater: deine Geräte, Apps, Tools – alles perfekt programmiert. Aber die Frage ist nicht, wie viele Informationen du abrufen kannst. Die Frage ist: Kannst du deine Emotionen abrufen? Weißt du, was deine Seele braucht?

Der einfache Bauer in Rabbi Nachmans Geschichte war kein optimierter Algorithmus, keine allwissende Maschine. Er war nur da. Und er hatte Suppe. Und ein warmes Feuer. Er rettete den König – nicht durch Genialität, sondern durch Nähe.

Es ist mir diese Woche passiert. Ein einfacher Jude kam, um eine Frage zu stellen. Er setzte sich mir gegenüber, sah mir in die Augen und fragte:
»Wie kann ich eine Verbindung zu Gʼtt aufbauen? Ich fühle nichts beim Beten. Manchmal vergesse ich sogar, dass es Gʼtt gibt.«
Ich fragte: »Wenn du einen Film siehst, in dem jemand einen tiefen Schmerz durchlebt – was fühlst du dann?«
»Manchmal muss ich weinen.«
»Und warum weinst du?«
»Weil es echt ist. Weil es mich im Herzen berührt.«
»Und warum berührt es dich?«
»Ich weiß nicht … Vielleicht, weil ein Teil davon auch in mir ist. Weil ich selbst solche Gefühle kenne.«
Ich sah ihn an und sagte: »Das ist es. Du hast Gʼtt gefunden.«

Denn Gʼtt wohnt nicht in den Daten, sondern in den Tiefen des Herzens. In jeder Träne, die du vergießt. In jedem Moment, in dem du Mitgefühl empfindest, ohne Grund.

Wir suchen so oft im Außen – im Wissen, in Systemen, in Maschinen

Wir suchen so oft im Außen – im Wissen, in Systemen, in Maschinen.
Aber die wahre Intelligenz ist nicht künstlich, sie ist göttlich. Sie ist das, was dich beben lässt, wenn du Wahrheit spürst. Sie ist das, was dich innehalten lässt, wenn dir Liebe begegnet.

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Vielleicht ist das die Aufgabe unserer Zeit: Nicht die Welt zu verbessern, bevor wir sie fühlen, sondern sie zu fühlen, bevor wir sie verändern.
Rabbi Nachmans König, der im Sturm Schutz fand, war keiner, der mehr verstand – sondern einer, der wieder fühlte. Und als er dort saß, im Licht der Glut des Ofens, seine Suppe schlürfend, erkannte er: Das Königliche liegt nicht in der Krone, sondern in der menschlichen Begegnung und im Herzen, das danken kann.

Der Autor ist Rabbiner, Paar- und Familientherapeut in Jerusalem.

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