Bamidbar

Ihre Zahl wird sein wie Sand

Foto: picture alliance / imageBROKER

Im Wochenabschnitt Bamidbar lesen wir, wie G’tt eine Volkszählung anordnet. Er sprach zu Mosche in der Wüste Sinai, im Zelt der Zusammenkunft, am ersten Tag des zweiten Monats im zweiten Jahr nach dem Auszug der Hebräer aus dem Land Mizrajim: »Nehmt die ganze Gemeinde der Söhne Israels auf, nach ihren Familien, nach den Häusern ihrer Väter, mit der Zählung der Namen, alle männlichen Personen nach ihren Köpfen.«

Wir beginnen nun mit einem neuen Buch der Tora, Bamidbar, das 4. Buch Mose, nach dem auch unser Wochenabschnitt benannt ist. Gʼtt zählt das jüdische Volk zweimal. Das erste Mal am Anfang des Buches und das zweite Mal im Wochenabschnitt Pinchas. Jeder Stamm wird auch intern zweimal gezählt. Es stellt sich die Frage, warum Gʼtt überhaupt zählen muss, und warum zweimal. Die Antwort finden wir in einem Gleichnis.

Eines Tages kam ein Milliardär in ein kleines Dorf und spendete von seinem Geld für alle Armen des Ortes. Ihm wurde gesagt, dass am Ende des Dorfes ein besonders armer Mann lebe. Der Milliardär sah, dass der arme Mann in einem kleinen Haus mit zehn Kindern wohnte und nicht genug Geld für Essen hatte. Der reiche Mann gab ihm 100.000 Euro in 500-Euro-Scheinen. Der arme Mann zählte das Geld und zählte es noch einmal. Er war glücklich und von Herzen dankbar und legte das Geld unter sein Bett. Jedes Mal, bevor er schlafen ging, nahm er das Geld heraus und zählte es. Seine Frau fragte ihn, wie oft er das Geld noch zählen wolle. Der Mann antwortete, dass er jedes Mal, wenn er das Geld zähle und jeden einzelnen Geldschein in die Hand nehme, große Freude empfinde.

So ist es auch bei Gʼtt. Jedes Mal, wenn Er das ganze Volk und jeden einzelnen Stamm zählt, freut er sich besonders. Deshalb zählt Gʼtt im 4. Buch Mose zweimal, und deshalb heißt das Buch auf Latein »Numeri«, Zahlen.

Wie kann eine unzählbare Menge dennoch eine Zahl haben?

Der Talmud (Joma 22b) nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch einen Vers aus dem Buch des Propheten Hosea: »Und die Zahl der Kinder Israels wird sein wie der Sand am Meer, den man weder messen noch zählen kann« (2,1). Auf den ersten Blick erscheint es paradox: Wie kann eine unzählbare Menge dennoch eine Zahl haben?

Die Weisen des Talmuds bieten eine tiefgreifende Einsicht. Sie erklären, dass der Vers nicht nur von physischer Quantität spricht, sondern von spiritueller Qualität. Die Zahl der Kinder Israels spiegelt ihre Hingabe an ihren Glauben wider. Wenn sie den Weg der Rechtschaffenheit gehen, nimmt ihre Zahl zu, nicht nur durch Fortpflanzung, sondern durch eine tiefere Verbindung zu ihrem Erbe und zueinander.

Der Maggid von Dubno, ein geachteter Anführer aus dem 18. Jahrhundert, geht noch einen Schritt weiter. Mit der folgenden Geschichte veranschaulicht er, wie der Unterschied zwischen Quantität und Qualität, wenn auch nicht offensichtlich, so doch erheblich sein kann.

Zwei Jungen prahlten mit dem Reichtum ihrer Väter. Der erste behauptete: »Mein Vater ist reicher als deiner. Als ich in den Safe in unserem Haus schaute, sah ich dicke Dollar-Bündel, umwickelt mit Gummibändern und frisch gebügelt von der Bank. Keine 5-Dollar- oder 10-Dollar-Scheine, sondern 100-Dollar-Scheine!« Der andere Junge hörte zu und lächelte: »Zweifellos ist dein Vater ein wohlhabender Mann. Die Frage ist nur, wer reicher ist. Hör, was ich dir jetzt erzählen werde. Mein Vater bewahrt keine Dollars im Safe auf, sondern legt sie an einem versteckten Ort im Schrank ab. Im Safe selbst befinden sich Anleihen, von denen jede 20.000 Dollar wert ist! Die Safes unserer Eltern sind identisch, und die Anzahl der Papiere darin ist dieselbe. Doch während dein Vater einige Zehntausend Dollar hat, übersteigen die fünf Wertpapiere meines Vaters den gesamten Inhalt des Safes in deinem Haus.«

Jede Person wird zu einem Gefäß von unermesslichem spirituellen Wert

Der Maggid von Dubno meint, dass die Kinder Israels, wenn sie von ihrem Glauben abweichen, wie einzeln bewertete Gegenstände betrachtet werden – ihr Wert ist begrenzt und leicht zu berechnen. Aber wenn sie sich dem Studium der Tora, dem Gebet und guten Taten widmen, dann löst sich diese begrenzte Bewertung auf.

Jede Person wird zu einem Gefäß von unermesslichem spirituellen Wert. Es verhält sich wie mit einer schwankenden Aktie – der Wert jedes Einzelnen übersteigt das bloße physische Zählen. Selbst wenn man Köpfe zählen könnte, ließe sich der wahre Wert dieser Gemeinschaft, die durch Rechtschaffenheit verbunden ist, nicht quantifizieren.

Diese schöne Metapher unterstreicht die transformative Kraft des Glaubens. Wenn die Kinder Israels mit Hingabe handeln, steigt ihr individueller spiritueller Wert, und der kollektive Wert der Nation wird grenzenlos. Es erinnert daran, dass der wahre Wert nicht in Zahlen liegt, sondern in der Stärke unserer Verbindung zu etwas Größerem als uns selbst.

Mögen wir alle danach streben, diesen Weg zu gehen – rechtschaffen und freundlich zu sein und uns unserem Glauben zu widmen. Indem wir dies tun, tragen wir nicht nur zu einer wachsenden Gemeinschaft bei, sondern zu einer Nation, deren Wert jede menschliche Maßgabe übersteigt.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Am Anfang des Wochenabschnitts Bamidbar steht die Zählung aller wehrfähigen Männer, mit Ausnahme der Leviten. Sie sind vom Militärdienst befreit und nehmen die Stelle der Erstgeborenen Israels ein. Ihnen wird der Dienst im Stiftszelt übertragen. Bei ihnen soll von nun an jeder Erstgeborene ausgelöst werden. Zudem wird geregelt, welche Familien für den Auf- und Abbau des Stiftszelts verantwortlich sind.
4. Buch Mose 1,1 – 4,20

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025