Vertrauen

»Ich werde da sein«

»Wenn sie mich fragen, wer mich gesandt hat – was soll ich sagen?« Mosche zögert, wie er erklären soll, dass Gott selbst mit ihm gesprochen hat. Foto: picture alliance / blickwinkel/McPHOTO/M. Gann

Vertrauen

»Ich werde da sein«

Wo nur ist Gott auf dieser Welt? Er hat es Mosche gesagt

von Rabbiner David Kraus  27.06.2025 10:50 Uhr

Inmitten des Alltags, in Krisen und Umbrüchen, sehnen wir uns nach Verlässlichkeit. Nach etwas, das bleibt, wenn alles andere ins Wanken gerät. Diese tiefe Sehnsucht spiegelt sich in einer der zentralsten Szenen der biblischen Geschichte: dem Moment, als Mosche vor dem brennenden Dornbusch stehen bleibt.

Mosche starrt auf die Flammen. Nicht, weil er neugierig wäre, sondern weil ihn etwas erschüttert. Der Busch brennt – aber er verbrennt nicht. Etwas daran ist nicht richtig, und genau darin liegt das Heilige. Mosche bleibt. Und er fragt – vielleicht die ursprünglichste aller menschlichen Fragen: »Wer bist du?« Oder genauer: »Wenn sie mich fragen, wer mich gesandt hat – was soll ich sagen?« (2. Buch Mose 3,13).

Das ist kein theologisches Interesse. Das ist eine existenzielle Frage. Eine Mischung aus Zweifel und Hoffnung, aus Überforderung und Aufbruch. Die Frage eines Menschen, der nicht sicher ist, ob er selbst ausreicht – und wissen will, ob Gott bleibt.

Der Busch brennt, aber er verbrennt nicht. Genau darin liegt das Heilige.

Mosche kennt das Volk, zu dem er geschickt werden soll. Er kennt seine Geschichte, seinen Schmerz, seine Zweifel. Wie soll er erklären, dass ein unsichtbarer Gott ihn geschickt hat? Dass da ein Busch gebrannt und gesprochen hat? Was Mosche wirklich fragt, ist, was viele von uns kennen, wenn wir an einer Weggabelung des Lebens stehen: Kann ich diesem Ruf trauen? Und – vielleicht noch dringlicher – kann ich mir selbst trauen, wenn ich ihm folge?

Dann kommt eine Antwort, die bis heute nachhallt: »Ehejeh Ascher Ehejeh« – »Ich werde sein, der Ich sein werde.« Kein fester Name. Kein Etikett. Keine Definition. Sondern ein Versprechen. Eine Bewegung. Eine göttliche Gegenwart, die sich nicht auf ein Dogma festlegen lässt, sondern sagt: Ich werde da sein. Mit dir. In deinem Werden.

Verschiedene Deutungen in der jüdischen Tradition

In der jüdischen Tradition wurde dieser Satz immer wieder neu gedeutet. Raschi (1040–1105), der mittelalterliche Kommen­tator, liest darin Trost: »Ich werde mit ihnen sein in dieser Not – wie auch in künftigen Nöten.« Für Maimonides, den Rambam (1135–1204), wiederum ist es ein philosophisches Statement über die Unbegreiflichkeit Gottes, über ein Sein, das jenseits aller Zeit liegt. Und der Baal Schem Tow (1698–1760), der Begründer des Chassidismus, hört darin etwas fast Revolutionäres: Nicht nur der Mensch glaubt an Gott – Gott glaubt an den Menschen.

Diese göttliche Zusage stellt sich gegen eine Welt, die uns zunehmend auf Zahlen, Profile und Leistungen reduziert. Gegen eine Kultur der Bewertung, in der der Wert eines Menschen oft von Klicks, Noten oder Output abhängt. In diesem Kontext wird die göttliche Antwort zur befreienden Alternative: »Ehejeh« bedeutet nicht, du bist nur dann etwas wert, wenn du funktionierst. Es sagt: Ich bin bei dir – nicht wegen deiner Leistung, sondern wegen deines Wesens.

Hier berühren sich Theologie, moderne Psychologie und Gesellschaftskritik. Das sogenannte »Goodhart’s Law« beschreibt: Sobald ein Maß zu einem Ziel wird, hört es auf, ein gutes Maß zu sein. Wenn etwa Social-Media-Likes oder Bildungsstatistiken zur Messlatte für Erfolg werden, verliert das System seinen Sinn. Wie beim sogenannten Kobra-Effekt: Im britisch-indischen Delhi wurden Prämien für tote Kobras ausgelobt – woraufhin Menschen begannen, Kobras zu züchten, um die Belohnung zu kassieren. Ein absurdes Beispiel dafür, was passiert, wenn Zahlen wichtiger werden als Menschen.

Der tiefste Glaube ist vielleicht nicht unser Glaube an Gott, sondern Gottes Glaube an uns.

»Ehejeh« durchbricht dieses System. Es ist keine Kennzahl, kein Bonuspunkt, kein Score. Es ist die Zusage: Du bist nicht allein. Du wirst begleitet – selbst dann, wenn du dich selbst noch nicht verstehst. Der tiefste Glaube, so wird klar, ist vielleicht nicht unser Glaube an Gott. Sondern Gottes Glaube an uns. Er sieht nicht nur, was wir sind – sondern auch, was wir werden können.

Du bist, wer du bist

Ein starkes Bild dafür liefert der Film Kingdom of Heaven. Balian, ein einfacher Schmied, steht vor der Aufgabe, Jerusalem zu verteidigen. Er ist kein Ritter, kein Held, kein gewählter Führer. Doch sein Vater sagt zu ihm: »Du bist, wer du bist.« Ein Satz, der an »Ehejeh Ascher Ehejeh« erinnert. Es geht nicht um Titel oder Rollen. Es geht darum, dem Moment treu zu sein. Mit Mut, Verantwortung – und Vertrauen.

Balian wächst über sich hinaus, nicht weil er den Kriterien entspricht, sondern weil er sich erlaubt, zu werden, was gebraucht wird. Genau darin liegt die Kraft der göttlichen Zusage: Ich bin da – auch dann, wenn du dich selbst noch nicht gefunden hast. Ich werde mit dir sein – in deinem Mut, in deiner Angst, in deinem Wachstum.

»Ehejeh« durchbricht dieses System. Es ist die Zusage: Du bist nicht allein.

»Ehejeh Ascher Ehejeh« ist mehr als ein Name. Es ist eine Einladung. Traue nicht nur dem, was du bist – sondern auch dem, was du sein kannst. Vertraue darauf, dass du nicht perfekt sein musst, um dich auf den Weg zu machen. Es reicht, dass du gehst. Mit allem, was du bist.

Denn Gott sagt nicht: »Ich bin der, der dich richtet.« Sondern: »Ich bin der, der dich begleitet.« Und vielleicht ist genau das der Anfang von etwas, das wir tief vermissen: einer Renaissance des Vertrauens. Oder sogar – einer Renaissance der Liebe.

Der Autor ist Rabbiner, Paar- und Familientherapeut in Jerusalem.

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