Geiseln und Glaube

»Ich wählte den Weg des Glaubens«

Chiara Lipp Foto: EDA-Magazin

»Ich wählte den Weg des Glaubens und durch den Weg des Glaubens kehrte ich zurück«: Diese Botschaft war auf der Tafel zu lesen, welche die kürzlich befreite Agam Berger aus dem Helikopter selbstbewusst und umgeben von ihren Eltern in die Kameras hielt. Seit ihrer Befreiung vor rund zwei Wochen werden immer mehr Details zu ihrer Gefangenschaft bekannt und vor allem Agams Bekenntnis zum jüdischen Glauben wird in diesem Zuge gleichzeitig bewundert sowie erstaunt zur Kenntnis genommen.

Wie ist es möglich, inmitten eines nicht vorstellbaren Horrors, eines grausamen Albtraums, zu G-tt zu finden, ja sogar sein Leben zu riskieren, um die jüdischen Gesetze zu achten? Wie kann G-tt dieses Leiden zulassen und warum trifft es ausgerechnet mich? Diese Fragen beschäftigen Menschen nicht erst seit dem 7. Oktober oder der Schoa. Die Theodizee-Frage ist wahrscheinlich so alt wie der Glaube selbst und findet sich bereits in der Geschichte des Hiob im Tanach.

Die Beantwortung ist bis heute Stoff zahlreicher religiöser Abhandlungen und Diskussionen in unterschiedlichen Religionen und wird sicher auch in Zukunft nicht so einfach zu beantworten sein. Meiner Ansicht nach wird der Fokus in solchen Auseinandersetzungen jedoch häufig falsch gelegt.

Kraftvolle Mitzwot

Es ist nicht zu verleugnen, dass uns Ereignisse wie die des 7. Oktobers, Berichte über Leidende der zahlreichen Kriege weltweit, aber auch schwere Krankheiten oder Todesfälle in der eigenen Familie zweifeln lassen und uns mit einem Gefühl der Machtlosigkeit und Ohnmacht zurücklassen. Jedoch sollte es nicht darum gehen, uns als passive Objekte wahrzunehmen, sondern als handelnde Subjekte, die mit eigenen Entscheidungen Einfluss auf unser Leben und das unserer Mitmenschen nehmen können. Daher möchte ich im Folgenden zwei kraftvolle Mitzwot sowie deren Bedeutung betrachten, die Agam sowie ihre Familie Berichten zufolge durch die letzten Monate trugen.

Es wird berichtet, dass Agam vor jeder Mahlzeit, die sie während ihrer Gefangenschaft erhielt, die passende Bracha Rishona sprach. Wenn wir den Aufbau und die Worte der einzelnen Brachot betrachten, so steht die Anerkennung von G-tt als Schöpfer des Universums sowie der jeweiligen Speise im Vordergrund, dessen Ursprung häufig noch beigefügt wird.

So loben wir den Ewigen als König eines unserer Vorstellungskraft übersteigenden Universums und gleichzeitig danken wir ihm für die Erschaffung dieser einen Speise, welche wir in unseren Händen halten dürfen. Der Prozess der Nahrungsaufnahme wird also nicht nur als biologischer, sondern viel mehr auch als spiritueller Vorgang wahrgenommen, in dem wir uns G-ttes Anwesenheit und Kraft vergegenwärtigen.

Bedeutsamer Schritt

Nach den Untersuchungen der bisher freigelassenen Geiseln stellten Ärztinnen und Ärzte Unterernährungen sowie enorm unausgewogene Ernährung fest. In Anbetracht dessen, ist die Segnung der Lebensmittel ein noch viel bedeutsamer Schritt, der das Vertrauen auf den Ewigen und die Dankbarkeit für jedes noch so kleine Glück bekräftigt.

Auch das Sprechen von Gebeten war laut den Angehörigen von Agam in den letzten Monaten von enormer Bedeutung. Doch warum beten wir eigentlich? Diese Mitzwot ist eine der zentralsten im Judentum und grundsätzlich werden hierbei drei Arten von Gebeten unterschieden: Gebete des Dankes, des Preisens und Gebete, in denen wir um etwas bitten können. Diese Aspekte finden sich mit unterschiedlicher Gewichtung auch in der Amida, dem Schma Israel, aber auch dem Mode Ani oder dem Kaddisch wieder.

Wir haben die Möglichkeit uns für all die Dinge zu bedanken, die unser Leben erfüllen und werden so daran erinnert, dass es auch in den dunkelsten Stunden Hoffnung gibt. Gleichzeitig dürfen wir unsere Nöte und Ängste vor den Ewigen bringen und für all das beten, was uns im Moment fehlt. Durch den Aspekt des Preisens vergegenwärtigen wir uns, dass es jemanden gibt, der so viel größer ist, als das, was wir uns vorstellen können und uns die Treue hält.

Trost und Mut

Gebete spenden Trost, machen Mut und können uns ein Gefühl der Geborgenheit geben. Weit entfernt von Familie, Freunden und Gemeinschaft erfüllen Gebete jedoch noch einen anderen Zweck. Sie ermöglichen uns, trotz physischer Entfernung, Teil der jüdischen Gemeinschaft zu sein. Jüdinnen und Juden sind auf der ganzen Welt verteilt. Von Estland bis Peru, über Israel und Deutschland. Trotzdem sprechen wir die gleichen Gebete, sind verbunden durch gemeinsame Traditionen und unsere Mitzwot.

Zu Kabbalat Schabbat bete ich mit meiner kleinen Gemeinde in Bayern für die sichere Rückkehr der Geiseln, genauso wie es Gemeinden in Jerusalem, Tallinn oder Lima seit Beginn des Krieges tun. Öffne ich meine Instagram-Feeds, lese ich Posts zu Gebeten aus zahlreichen jüdischen Gemeinden weltweit, vereint durch identische Wünsche und Bitten. Das Gefühl, die Worte zu sprechen, die von jüdischen Menschen auf der ganzen Welt seit so langer Zeit bis heute gesprochen werden, ist jedes Mal überwältigend.

Der Weg des Glaubens ist nicht immer ein einfacher Weg, doch letztendlich wird er zum Ziel führen, vereint uns und bringt uns, wie es Agam Berger beweist, gestärkt auch aus den schrecklichsten Situationen hervor.

Am Israel Chai.

Dieser Text ist zuerst bei »Eda« erschienen, dem Magazin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Mehr Informationen finden Sie auf der Website oder dem Instagram-Kanal von »Eda«.

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