Tora

Hüter des Heiligen

Menschen, zu denen man als Vorbild aufschaut, müssen sich auch wie Vorbilder verhalten. Foto: Getty Images

In den vergangenen Jahren fühlten wir uns oft von Berichten über israelische und jüdische Führer geplagt, deren unmoralische Handlungen aufgedeckt worden waren. Ein Präsident, der des sexuellen Missbrauchs schuldig war. Ein Premierminister, der wegen Korruption und Bestechung angeklagt wurde. Rabbiner in mehreren Ländern, denen finanzielle Unregelmäßigkeiten, sexuelle Belästigung und Kindesmissbrauch vorgeworfen wurden. Dass solche Dinge vorkommen, zeugt von einer tiefgreifenden Malaise im heutigen jüdischen Leben.

Es steht mehr auf dem Spiel als nur die Moral. Die Maximen der Moral sind universell. Bestechung, Korruption und Machtmissbrauch sind unrecht, und dies gilt überall, egal, wer sich ihrer schuldig macht. Sind die Schuldigen jedoch führende Persönlichkeiten, geht es um mehr: um die Prinzipien von Kidusch Haschem und Chilul Haschem. In unserem Wochenabschnitt heißt es: »Entweiht nicht Meinen heiligen Namen, auf dass Ich unter den Kindern Israels geheiligt werde. Ich bin der Ewige, der euch heiligt...« (3. Buch Mose 22,32).

PFLICHTEN Die Konzepte von Kiddusch und Chillul Haschem haben eine Geschichte. Obwohl sie zeitlos und ewig sind, kam es zu ihrer Entfaltung erst im Laufe der Zeit. Nach Ibn Esra hat der Vers in unserer Parascha einen engen und lokal begrenzten Sinn. Das Kapitel, in dem er vorkommt, handelt von den besonderen Pflichten der Priesterschaft und der äußersten Sorgfalt, die ihnen beim Dienst in Gottes Heiligtum geboten ist. Ganz Israel ist heilig, die Priester aber sind eine heilige Elite innerhalb des Volkes. Es oblag ihnen, die Reinheit und Herrlichkeit des Heiligtums als Gottes symbolisches Haus inmitten des Volkes zu bewahren. Die Gebote sind also ein spezieller Auftrag an die Priester, als Hüter des Heiligen besondere Umsicht walten zu lassen. (…)

Maimonides, der Rambam, bringt es so auf den Punkt: »Es gibt noch andere Taten, die ebenfalls zur Entweihung des Namens Gottes gehören. Wenn eine herausragende Tora-Persönlichkeit, die für ihre Frömmigkeit bekannt ist, Dinge tut, die zwar keine Übertretungen sind, aber die Menschen dazu veranlassen, abfällig über sie zu sprechen, ist dies ebenfalls eine Entweihung des göttlichen Namens ... All dies hängt von der Größe des Weisen ab ...«

VORBILD Menschen, zu denen man als Vorbild aufschaut, müssen sich auch wie Vorbilder verhalten. Die Frömmigkeit gegenüber Gott muss mit einem vorbildlichen Verhalten gegenüber den Mitmenschen einhergehen. Wenn die Menschen Religiosität mit Integrität, Anstand, Demut und Mitgefühl assoziieren, ist Gottes Name geheiligt. Wird sie jedoch mit der Verachtung für andere und für das Gesetz in Verbindung gebracht, so ist das Ergebnis eine Entweihung des Namens Gottes.

Menschen, zu denen man als Vorbild aufschaut, müssen sich auch wie Vorbilder verhalten.

Allen fünf Sinndimensionen gemeinsam ist der radikale, für das jüdische Selbstverständnis zentrale Gedanke, dass Gott Seinen öffentlichen Ruf, »Seinen Namen«, aufs Spiel gesetzt hat, indem Er sich entschied, ihn mit einem einzigen und einzigartigen Volk zu verbinden. Gott ist der Gott der gesamten Menschheit. Doch hat Er Israel dazu auserwählt, Seine »Zeugen«, Seine Botschafter, in der Welt zu sein. Wenn wir in dieser Rolle versagen, ist es, als ob Gottes Ansehen in den Augen der Welt beschädigt werde.

Fast 2000 Jahre lang war das jüdische Volk ohne Heimat, ohne Land, ohne Bürgerrechte, ohne Sicherheit und ohne die Möglichkeit, sein Schicksal zu gestalten. Es wurde in die Rolle eines »Pariavolkes« gedrängt, wie Max Weber es nannte. Naturgemäß kann ein Paria kein positives Vorbild sein. Damals erhielt Kiddusch Haschem seine tragische Dimension: die Bereitschaft, für seinen Glauben zu sterben. Das ist heute nicht mehr der Fall. Heute haben Juden zum ersten Mal in der Geschichte Souveränität und Unabhängigkeit im Staat Israel wie auch Freiheit und Gleichheit anderenorts. Kiddusch Haschem muss daher wieder seine positive Bedeutung für beispielhaften Anstand im moralischen Leben zurückgegeben werden.

Das ist es, was die Hethiter veranlasste, Awraham »einen Fürsten Gottes in unserer Mitte« zu nennen. Es ist das, was Israel Bewunderung einbringt, wenn es sich bei internationalen Hilfs- und Rettungsaktionen engagiert. Die Begriffe Kiddusch und Chillul Haschem schmieden eine unauflösliche Verbindung zwischen dem Heiligen und dem Guten. Geht uns dies verloren, verraten wir unsere Mission als »heilige Nation«.

Die Überzeugung, dass zum Judentum das Streben nach Gerechtigkeit und tätiges Mitgefühl gehören, war für unsere Vorfahren ausschlaggebend, dem Judentum die Treue zu halten und es nicht aufzugeben, trotz allem Druck von außen. Es wäre die größte Tragödie, wenn uns diese Verbindung gerade jetzt verloren ginge, in einer Zeit, da es uns gegeben ist, der Welt auf Augenhöhe zu begegnen.

Vor langer Zeit waren wir aufgerufen, der Welt zu zeigen, dass Religion und Moral Hand in Hand gehen. Nie war das nötiger als in einer Zeit, die von religiös motivierter Gewalt in einigen Ländern und zügellosem Säkularismus in anderen zerrissen ist. Jude zu sein heißt, sich der Aussage zu verschreiben, dass Gott zu lieben bedeutet, die Menschheit als Sein Ebenbild zu lieben. Es gibt keine größere Herausforderung - und im 21. Jahrhundert auch keine dringendere.

Der Bund traditioneller Juden in Deutschland und das Rabbinerseminar zu Berlin stellen die Weisheit der Tora von Rabbiner Lord Jonathan Sacks z»l innerhalb der deutschsprachigen jüdischen Welt zur Verfügung. Die Übersetzung stammt von Rabbiner David Kern. Mehr dazu: www.RabbiSacks.org

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