Wajechi

Herkunft zählt

Foto: Getty Images

Bei einem Besuch bei Dayan Chanoch Ehrentreu (1932–2022) im vergangenen Jahr in seinem Haus fiel mir ein Porträt seines Großvaters Chanoch Hakohen Ehrentreu auf. Dayan Ehrentreu war nach ihm, dem berühmten Münchner Rabbiner, benannt worden.

In seinen letzten Lebensjahren war Da­yan Ehrentreu zwar durch Krankheit geschwächt und konnte sich weder bewegen noch sprechen, doch behielt er seinen scharfen Geist, und er blieb aktiv: Er benutzte seine Hand, um weiterhin anderen zu helfen, indem er ihnen seinen Segen gab.

segnungen In unserem Wochenabschnitt hören wir von der Bedeutung von Segnungen und deren Auswirkungen auf nachfolgende Generationen. In den letzten Tagen seines Lebens segnete Jakow seine Kinder und Enkelkinder. Der Segen, den er seinen Enkeln Menasche und Efrajim gab, wurde zu einem Symbol jüdischer Kontinuität und zu einem der Überlebensgeheimnisse des jüdischen Volkes.

Die beiden Söhne Josefs saßen vor Jakow: Menasche zu seiner Rechten, Efrajim zu seiner Linken. Jakow greift hinüber und besteht darauf, seine rechte Hand auf Efrajims Kopf zu legen, anstatt auf Menasche.

Josef versucht, Jakow davon abzubringen, und erinnert ihn daran, dass Menasche der ältere der beiden Brüder ist und er deshalb den Segen von Jakows rechter Hand erhalten soll.

SYMBOL Warum war es so wichtig, dass Efrajim den Segen auf diese Weise erhielt? Was symbolisierte dies? Um auf einer tieferen Ebene zu verstehen, warum sich Jakow entschied, den Segen auf diese Weise zu geben, müssen wir uns mit der Bedeutung der Namen Menasche und Efrajim befassen.

Josef hatte seinen Sohn Menasche genannt, »denn (er, Josef, sprach): ›Gott hat mich vergessen lassen all mein Unglück und das ganze Haus meines Vaters«. Der Ewige hatte Josef geholfen, die Qual und das Elend, die er als Opfer des Missbrauchs seiner Brüder erlebt hatte, aus seiner Erinnerung zu verdrängen. Erst danach konnte es ihm gelingen, in Ägypten ein anerkannter und starker Mann zu werden.

Der Name Efrajim bedeutet »Der Ewige hat mich fruchtbar gemacht im Land meiner Unterdrückung«. Indem Josef seinem Sohn diesen Namen gab, erkannte er an, dass Haschem ihn in Ägypten wachsen und gedeihen ließ.

dankbarkeit Beide Namen spiegeln die Dankbarkeit Josefs für seinen Zustand in Ägypten zum Zeitpunkt der Geburt seiner beiden Söhne wider, jedoch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Der Name Menasche steht im Kontrast zur großen Macht, die Josef in Ägypten genoss, nachdem er den Schmerz seiner Vergangenheit überwunden und vergessen hatte.

Jakow konzentrierte sich bei seinem Segen auf den Namen Efrajim, weil er davon ausging, dass Juden, wenn sie überleben und gedeihen wollen, nicht, wie es der Name Menasche nahelegt, die Vergangenheit vergessen konnten. Jakow glaubte, wenn seine Nachkommen fruchtbar sein sollen, müssten sie wie Efrajim sein und sich mit ihren Wurzeln, ihrer Vergangenheit und ihrem Heimatland verbinden, deshalb wollte er zuerst Efrajim segnen.

Jakow setzte sich seinem Sohn Josef gegenüber durch, und seine rechte Hand legte sich auf Efrajims Kopf.

PERSPEKTIVEN Dieser Austausch zwischen Jakow und Josef spiegelt unterschiedliche Perspektiven wider, wie wir die Vergangenheit betrachten können.

Josef verstand: Wenn wir vorankommen wollen, dürfen wir uns nicht vom Schmerz und der Angst der Vergangenheit belasten lassen. Wir müssen etwas von diesem Schmerz vergessen, um eine optimistische Zukunft haben zu können. Das ist der einzige Weg.

Jakow sagt: Nein, wir müssen uns mit unseren Wurzeln verbinden. Auch wenn es Dinge gibt, an die wir uns nur ungern erinnern, müssen wir uns mit unserer Heimat, unserem Erbe und unseren Menschen verbinden.

In vielerlei Hinsicht hatte Josef die schwierigen Erlebnisse der Vergangenheit natürlich nicht ganz vergessen. Er konnte sich noch an all die Traurigkeit und den Schmerz darüber erinnern, wie seine Brüder ihn behandelt hatten. Aber er ließ nicht zu, dass diese Gefühle ihn beherrschten oder sein Leben beeinflussten.

ERINNERUNGEN Zurück zu Dayan Ehrentreu: Er hatte seine Heimatstadt Frankfurt als kleines Kind kurz nach der Pogromnacht verlassen müssen. Doch trotz der bösen Erinnerungen daran vergaß er sein Geburtsland nie. Er wuchs während des Krieges in England auf und hielt an den großen Traditionen seines berühmten Großvaters fest.

In vielerlei Hinsicht ist zu sehen, dass er wie Josef schwierige Erinnerungen nicht in sein Leben einfließen ließ. Als Dayan des Londoner Beit Din errang er eine sehr hohe Position. Doch er vergaß nicht, woher er kam, und zeigte in seinen letzten Lebensjahren einen unübertroffenen Einsatz für die Erneuerung jüdischen Lebens in seinem Geburtsland. Er war Leiter des Europäischen Beit Din, aber auch Dekan des Berliner Rabbinerseminars.

In den Tagen kurz vor seinem Tod wurden fünf Rabbiner, die er persönlich unterrichtet hatte, in Hannover ordiniert. Ich bin einer von ihnen. Die Tradition, die er von seiner Familie erhalten hatte, konnte er trotz des Holocaust in einer ununterbrochenen Kette weitergeben, sodass sie bei den neuen Rabbinern erhalten bleibt.

zukunft Er vergaß nie seine Vergangenheit und war deshalb in der Lage, eine optimistische Zukunft für die Juden in Deutschland aufzubauen, genau wie Jakow es sich vorgestellt hatte, als er Efrajim und nicht Menasche zuerst segnete. Er meinte, wenn Juden erfolgreich sein wollten, müssen sie sich mit ihrem Erbe verbinden.

Im Gegensatz zu all den anderen Paraschiot gibt es zwischen Wajechi und dem vorherigen Wochenabschnitt keine Lücke. Dayan Ehrentreu sorgte mit seiner unerschütterlichen Hingabe dafür, dass es keine Lücke gab, indem er die Tradition der Tora an die nächste Generation von Rabbinern in Deutschland weitergab. Er war das Glied in der Kette, die eine schwere Vergangenheit mit einer optimistischen Zukunft verband.

Das war sein Segen für uns und bedeutet, dass die jüdische Gemeinde in Deutschland hoffnungsvoll in eine Zukunft blicken kann, die in den Traditionen der Vergangenheit verwurzelt ist.

Der Autor ist Rabbiner in London.

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajechi erzählt davon, wie Jakow die Enkel Efrajim und Menasche segnet. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und er wendet sich an jeden mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird seinem Wunsch entsprechend in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass der Ewige sie in das versprochene Land zurückführen wird.
1. Buch Mose 47,28 – 50,26

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  16.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025