Mischpatim

Gleiches Recht für alle

Der Wochenabschnitt Mischpatim (zu Deutsch: Gesetze) enthält vor allem Gebote zum Thema Recht und Gerechtigkeit.

Mischpatim

Gleiches Recht für alle

Schon die Tora regelt, dass es vor dem Gesetz keinen Unterschied zwischen Mann und Frau gibt

von Rabbiner Joel Berger  21.02.2025 13:33 Uhr

Der Wochenabschnitt Mischpatim (zu Deutsch: Gesetze) enthält vor allem Gebote zum Thema Recht und Gerechtigkeit. Wir lernen die Zivilgesetzgebung und Rechtsprechung der Tora kennen. Grundlage für das Rechtswesen in diesen Kapiteln der Tora ist der Schaden, den man jemandem gewollt oder ungewollt zugefügt hat. Der Geschädigte hat selbstverständlich ein Anrecht auf Entschädigung. Auf welche Art sie zu leisten ist, um sie angemessen und gerecht zu gestalten, dies ist das Anliegen der Gesetzgebung der Tora.

Die Rechtsprechung der Tora kannte noch keine Gefängnisse. Ihre Zielsetzung war es, dass jeder, der anderen Menschen Schaden oder eine Verletzung zufügt, dies mit seiner Hände Arbeit wiedergutmachen muss. Die Gerichte fällten Urteile, nach denen der Schuldige zeitweilig seine Selbstständigkeit einbüßte, um durch seine Arbeit den verursachten Schaden zu ersetzen.

Der Verlust der Selbstständigkeit war jedoch zeitlich begrenzt, um eine sklavenähnliche Abhängigkeit auszuschließen. Kein Gerichtsurteil konnte den Schuldigen länger als sechs Jahre an den Geschädigten binden. Das siebte Jahr brachte automatisch die Freiheit mit sich. Die Gesetzgebung achtete auf die Würde des Verurteilten. Der Geschädigte durfte keinerlei Macht gegenüber dem Verurteilten erlangen.

Ein Sklave sollte aus derselben Küche versorgt werden und am selben Tisch essen wie sein Herr.

In der nachbiblischen Zeit festigte der Talmud diese Einstellung. Man schrieb verbindlich vor, dass ein Arbeitender auch im häuslichen Bereich keinerlei Benachteiligung erleiden darf. Er sollte zum Beispiel aus derselben Küche versorgt werden und am selben Tisch essen wie sein Herr. Den Grund für diese detaillierte Anweisung lieferte die Sklavenordnung der damaligen griechisch-römischen Welt. Dort wurden die Sklaven als »sprechende Werkzeuge« von ihren Herren radikal ferngehalten. Wenn ein Sklave – gemäß den römischen Gesetzen – am Tisch des Herrn Platz nehmen durfte, dann bedeutete dies seine Befreiung aus dem Sklavenstand. Doch dies kam selten vor.

Die Einleitung zu dieser zivilen Gesetzgebung der Tora lautet: »Und das sind die Rechtssatzungen, die du ihnen vorlegen sollst …« (2. Buch Mose 21,1). Aus diesen Worten schlossen die Kommentatoren, dass die Tora Mann und Frau vor dem Gesetz als gleichberechtigt betrachtet. Ansonsten hätte der Ewige nicht zu Mosche gesagt: Du sollst »ihnen«, also Mann und Frau, die Satzungen vorlegen. Beide, Mann und Frau, unterliegen denselben Rechtsnormen und tragen dieselbe Verantwortung für ihr Tun und Lassen.

Ebenso selbstverständlich ist es für die Rechtsauffassung der Tora, dass der Schadenersatz dem Geschädigten in gleicher Höhe zugesprochen wird, ungeachtet dessen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Ebenso betrifft auch die Schadenersatzpflicht beide Geschlechter. Die Schadenersatzpflicht bei Körperverletzung erweiterten die Rabbinen: Wenn jemand nach der ihm zugefügten Körperverletzung bettlägerig wird, muss der Schuldige ihm Schadenersatz leisten und den Verdienstausfall begleichen. Außerdem ist er verpflichtet, den Geschädigten »heilen zu lassen« (2. Buch Mose 21,19).

Dem hebräischen Ausdruck »werapo jerape« (»und er soll ihn vollständig heilen«) in diesem Vers entnahmen die Rabbinen, und zwar nicht nur für diesen Einzelfall, sondern für jegliche Fälle von Krankenpflege, dass der Arzt ohne Einschränkung die Freiheit haben muss, einen Erkrankten jederzeit zu heilen. Selbst am höchsten Feiertag darf ein Arzt seine Pflicht nicht vernachlässigen. Wenn es um die Rettung eines Menschenlebens geht, sind alle Verbote der Tora aufgehoben.

Der Talmud äußert die Meinung (Sanhedrin 14), dass es für einen rabbinischen Gelehrten nicht angebracht sei, in einer Stadt zu wohnen, in der es keinen Arzt gibt.

Ein Jude ist nicht nur zur Nächstenliebe verpflichtet, sondern auch zur Selbstliebe

Ein Jude ist nicht nur zur Nächstenliebe verpflichtet, sondern aufgrund der Formulierung des Toraverses über die Nächstenliebe – »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« – auch zur Selbstliebe. Wir sind von der Tora her verpflichtet, uns selbst, als Ebenbilder des Schöpfers, zu hüten und zu pflegen. Vielleicht hat diese Auffassung der Rabbinen dazu beigetragen, dass es seit dem Altertum in jedem Zeitalter genügend profilierte jüdische Ärzte gab.

Viele haben bereits nach Gründen gesucht, warum es unter Juden schon im Altertum, aber noch mehr im Mittelalter so viele Ärzte gab. Gewiss hat im Mittelalter auch dazu beigetragen, dass Rabbiner und Gesetzeslehrer in den jüdischen Gemeinden für ihre Tätigkeit nicht bezahlt wurden. Ihre Arbeit wurde als ein ethisch begründeter Dienst an der Gemeinschaft angesehen, der nicht vergütet werden sollte. Daher übten viele als Brotberuf die Heilkunde auf.

Dies war zumeist in Spanien oder Nordafrika der Fall, wo es die Kirche, anders als in Mitteleuropa, Juden nicht verwehren konnte. Durch das Studium der Heilkunde und das Wirken als Arzt halfen diese Menschen nicht nur Juden, sondern gewannen häufig auch einflussreiche Beamte oder gar den Herrscher als Fürsprecher, die dann zugunsten der oft bedrohten Juden hilfreich eingreifen konnten. So war Maimonides, der Rambam (1138–1205), nicht nur ein bis heute maßgebender rabbinischer Gelehrter, sondern er erhielt aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse und ärztlicher Geschicklichkeit die Unterstützung des Herrschers Saladin und dessen Wesirs Alfadhil. Man erzählt, der gute Ruf des Rambam soll bis nach England gereicht haben, sodass König Richard Löwenherz ihn zu seinem Leibarzt machen wollte.

Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.

inhalt
Der Wochenabschnitt Mischpatim wird auch als Buch des Bundes bezeichnet. Hier geht es um Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Der zweite Teil besteht aus Regelungen zur Körperverletzung, daran schließen sich Gesetze zum Eigentum an. Den Abschluss der Parascha bildet die Bestätigung des Bundes. Am Ende steigen Mosche, Aharon, Nadav, Avihu und die 70 Ältesten Israels auf den Berg, um den Ewigen zu sehen.
2. Buch Mose 21,1 – 24,18

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025