Dokumentation

Gewalt und Gesetz

Rabbiner Jonathan Sacks bei seinem Vortrag in der Humboldt-Universität Foto: Uwe Steinert

Heute, im 21. Jahrhundert, steht die Religionsfreiheit wieder auf dem Spiel. Nicht nur für Juden, die eine Rückkehr des Antisemitismus nach Europa fürchten, sondern auch für Christen und Muslime.

In Syrien, im Irak, in Afghanistan, in Libyen, Somalia, Jemen und dem Sudan, faktisch in einem Drittel der Staaten auf der Welt – und auch bei den Terroranschlägen in Paris, im Grunde seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 – ist Religion eine Quelle der Gewalt und nicht des Friedens; eine Quelle der Dunkelheit und nicht des Lichts. Sie bedroht die Freiheit, nicht nur im Nahen Osten, in Asien und in Afrika, sondern auch in Europa. Doch wenn Religion Teil des Problems ist – kann sie dann auch Teil der Lösung sein?

Offenbarung Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Aspekte des Judentums eingehen, die für Nichtjuden schwer zu verstehen sind. Erstens glauben Juden, dass sich Gott der Menschheit primär in Form des Gesetzes offenbarte.

Diese Auffassung führte zur Trennung der Wege des Judentums und dem großartigen Phänomen des paulinischen Christentums. In den Römerbriefen argumentierte Paulus, seine neue Interpretation des Bundes bedeute, dass Religion nicht darauf beruht, was wir tun, sondern darauf, was wir glauben: Es geht nicht um das Gesetz, sondern um Liebe. Paulus war, natürlich, ein Jude. Warum stimmten andere Juden ihm dann nicht zu?

Der zweite schwer zu verstehende Aspekt des Judentums ist: Laut dem ersten und zweiten Buch Mose offenbarte sich Gott den Menschen nicht nur einmal in Form des Gesetzes, sondern gleich zweimal. Zuerst schloss Er mit Noach einen Bund für die ganze Menschheit. Das zweite Mal schloss Er am Berg Sinai einen Bund mit Moses und den Israeliten, den Nachkommen von Abraham und Sara.

Rechtssysteme Im Judentum gibt es daher zwei Rechtssysteme, die beide gleich wichtig sind: ein universelles Gesetzeswerk für die ganze Menschheit und ein partikulares Gesetzeswerk nur für einen Teil der Menschheit. Weder das Christentum noch der Islam akzeptierten diese Idee. Beide betonten das Universale und nicht das Partikulare: ein Gott, eine Wahrheit und ein Weg für die gesamte Menschheit.

Auf den ersten Blick macht das mehr Sinn als die jüdische Sicht. Warum hat sich das Judentum dem verweigert? Ich möchte das in den Worten von René Girard erklären, einem Mann, der Anfang November im Alter von 91 Jahren gestorben ist. Girard war der größte Autor im 20. Jahrhundert, der über die Beziehung zwischen Religion und Gewalt geschrieben hat. Viele Menschen sind der Meinung, Religion erzeuge Gewalt. Sigmund Freud und René Girard dagegen argumentierten, Gewalt erzeuge Religion. Girard nannte das »mimetisches Begehren«.

Er sprach davon, dass wir das sein oder haben wollen, was die anderen sind: Er meinte Eifersucht unter Geschwistern. Im alten Ägypten war das der Konflikt zwischen Seth und Osiris, in Rom zwischen Romulus und Remus, im ersten Buch Mose zwischen Kain und Abel, zwischen Isaak und Ismael, zwischen Jakob und Esaw, zwischen Josef und seinen Brüdern, zwischen Lea und Rachel. Außerdem sprach Girard davon, dass Gewalt eine Spirale aus Rache und Vergeltung hervorruft, die kein natürliches Ende hat.

Sündenbock
Doch René Girard zeigt auch eine Möglichkeit auf, wie man die Spirale der Gewalt durchbrechen kann. Der grundlegende religiöse Akt ist demnach ein menschliches Opfer, ein Sündenbock: Ein unschuldiger Dritter wird getötet, damit die Gewalt zwischen zwei Parteien ein Ende findet. Laut Girard ist das die Rolle der Religion in der Gesellschaft. Mich als Juden spricht diese Theorie an, denn sehr häufig haben Juden in der Geschichte diese Rolle gespielt.

Girard war Katholik. Für ihn war die Grundlage des Christentums ein Akt Gottes, der seinen Sohn opfert, damit wir keine anderen unschuldigen Opfer mehr brauchten. Ich respektiere das. Doch Girard glaubte auch an einen weiteren Weg, eine Spirale der Gewalt zu durchbrechen, und zwar durch ein effektives Rechtssystem, das unparteiisch ist.

Es ist faszinierend, dass Girard, der größte Philosoph der Gewalt im 20. Jahrhundert, diese beiden völlig verschiedenen Mechanismen aufgezeigt hat: den Sündenbock und das Gesetz. Damit hat er, wohl ohne dass er sich dessen bewusst war, auf die Trennung der Wege zwischen dem Judentum und dem paulinischen Christentum verwiesen.

Gottesbilder Die Paulusbriefe haben eine Reihe von Widersprüchen zwischen dem Gott des Alten Testaments und dem Gott des Neuen Testaments aufgezeigt, die Juden und Christen ein schweres Erbe hinterlassen haben. Der Gott des Alten Testaments ist der Gott der Gerechtigkeit und des Gesetzes, der Gott des Neuen Testaments ist der Gott der Vergebung und der Liebe.

Doch in der christlichen Mainstream-Theologie ist der Gott des Alten Testaments auch der Gott des Neuen Testaments. Die Idee zweier verschiedener Götter wurde von der Kirche als Häresie abgelehnt. Wenn Jesus also von Liebe spricht, spricht er als Jude, der die Tora zitiert: »Du sollst Gott von ganzem Herzen lieben ...« »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.

Er spricht aus einer Tradition, die ihren höchsten Feiertag, Jom Kippur, als Tag der Vergebung bezeichnet. In beiden Religionen ist es dieselbe Liebe und dieselbe Vergebung. Was das paulinische Christentum vom Judentum unterscheidet, ist die Schlussfolgerung von Paulus: Wenn man Liebe hat, braucht man kein Gesetz. Warum hat sich das Judentum dieser Auffassung verweigert?

Geschwisterkonflikte
Das erste Buch Mose berichtet, warum nicht nur Hass, sondern auch die Liebe Konflikte erzeugt. Isaak liebte Esaw, Rebbekka liebte Jakob. Das Ergebnis war einer der größten Geschwisterkonflikte in der Menschheitsgeschichte. Liebe ist also nicht die Antwort auf Gewalt, sondern das Gesetz ist die Antwort auf Gewalt, denn Liebe erzeugt Geschwisterkonflikte. Und Kinder streiten sich und konkurrieren um die Liebe ihrer Eltern.

Auch zwischen den drei monotheistischen Religionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, herrscht ein Geschwisterkonflikt. Alle drei führen ihre Ursprünge auf einen gemeinsamen Vorfahren, auf Abraham oder Ibrahim, zurück. Das Ergebnis dieses Konflikts waren Jahrhunderte von Kreuzzügen, Dschihads und Heiligen Kriegen. Und das hat bis heute kein Ende gefunden.

In der Hebräischen Bibel wurde der Bund mit Noach vor dem Bund mit Moses geschlossen. Das bedeutet: Unsere gemeinsame Menschlichkeit hat Vorrang vor unseren religiösen Differenzen. Denn unsere gesamte Zukunft als freie Menschheit steht auf dem Spiel.

Die Religion Abrahams, die drei Formen annahm – Judentum, Christentum und Islam –, dieser Familienglaube steht im 21. Jahrhundert vor seinem höchsten Test. Können wir Gesetz und Liebe kombinieren? Uns eint eine universale Menschlichkeit. Was uns trennt und in unterschiedliche Familien aufteilt, ist der Glaube. Lassen Sie uns zusammen für eine Welt arbeiten, in der Freiheit für alle Religionen herrscht.

Der Autor ist Philosoph und war britischer Oberrabbiner. Der Text besteht aus einer ins Deutsche übertragenen und gekürzten Version des Hildesheimer Vortrags des Rabbinerseminars zu Berlin, den Jonathan Sacks am 10. Dezember in der Humboldt-Universität hielt. Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Rabbinerseminars.

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