Schawuot

Gesetz und Geschichte

Die Tora ist neben der Geschichte des jüdischen Volkes vor allem ein Gesetzbuch. Foto: Marco Limberg

Schawuot, das Fest, das wir diese Woche begehen, hat verschiedene Namen, die auf die verschiedenen Bedeutungen des Feiertags hinweisen. Die Bedeutung, die wir am stärksten mit dem Fest verbinden, ist der Empfang der Tora in der Wüste am Berg Sinai.

Die Tora und der Ort, an dem sie uns gegeben wurde, vermitteln uns zentrale Ideen, die für unsere heutigen westlichen Gesellschaften grundlegend sind und die an Aktualität im Laufe der Zeit nichts eingebüßt haben.

bedeutung Die Tora wird in der Wüste empfangen. Die Bedeutung dieses Umstands wird dadurch betont, dass der Wochenabschnitt, der jedes Jahr direkt vor Schawuot gelesen wird, Bamidbar ist – wörtlich: in der Wüste. Die Wüste scheint also nicht zufällig als Ort der Übergabe der Tora ausgewählt worden zu sein. Eine Interpretation der Weisen in Bamidbar Rabba ist, dass, wer sich nicht frei macht, so wie man frei in der Wildnis ist, sich nicht die Weisheit und die Tora wird aneignen können.

Die Wüste scheint nicht zufällig als Ort der Übergabe der Tora ausgewählt worden zu sein.

Diesen Gedanken ein wenig weitergesponnen: Die Wüste hält nicht viele visuelle Ablenkungen parat, der Mensch ist dort in gewissem Sinne auf sich selbst zurückgeworfen. Wird der Gedanke der Wüste als zentraler Ort mit anderen damaligen Religionen verglichen, wird deutlich, dass die Tora Spiritualität nicht in der Verbildlichung von G’ttern sucht, in der Sonne, in Flüssen wie dem Nil oder in monumentalen Bauwerken wie etwa Pyramiden.

Die G’ttlichkeit und Spiritualität wird – ohne äußere Ablenkung – durch die Vernehmung des Wortes vermittelt. Das Wichtige ist das Hören, das Wort und damit letztlich die Kommunikation.

zehn gebote Im Hebräischen ist Midbar (Wüste) auch sprachlich nah an Medaber – sprechen. G’tt tritt in der Tora auch an anderen Stellen im Wege der Kommunikation auf, etwa in Gesprächen mit Awraham oder Moses. Ein Bildnis von G’tt zu erstellen, ist im Judentum verboten, eines der Zehn Gebote, die an Schawuot im Mittelpunkt stehen.

Dies stellte einen fundamentalen Wandel im Verständnis von G’ttlichkeit und von Werten dar – einen Wechsel von sichtlicher Wahrnehmung und Verbildlichung, auch in Symbolen der Macht wie Bauwerken, hin zur Kommunikation über Wörter.

Dieses Konzept führt zu Abstraktion und eröffnet einen großen Raum, Ideen und Erfahrungen weiterzugeben, eben weil sie unabhängig von der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung sind. Diese Weitergabe findet im heutigen Judentum während eines Jahres wieder und wieder statt, etwa an Pessach oder wie jetzt an Schawuot.

Gerade in Deutschland sind Gesetze zentrale Grundlage der Gesellschaft.

Die Tora ist neben der Geschichte des jüdischen Volkes vor allem ein Gesetzbuch. Die Zehn Gebote, ein wesentlicher Inhalt der Kommunikation, sind Gesetze. Eine Besonderheit des in der Tora gegebenen Gesetzes ist, dass es, als es an Schawuot gegeben wird, noch kein Land gibt, in dem es gelten soll.

geltung Rabbiner Jonathan Sacks sel. A. weist darauf hin, dass gewöhnlicherweise in der Geschichte erst ein Land existiert und das in der Folge erlassene Gesetz dann innerhalb des Landes gilt. Die Tora wird dem jüdischen Volk gegeben und von diesem akzeptiert, bevor das jüdische Volk Israel erreicht. Die Geltung des Rechts ist jedenfalls zu einem gewissen Grad unabhängig von einem Land.

Das in der Religion verankerte Rechtssystem, dem sich bis zum heutigen Tag Einzelne und die jüdische Gemeinschaft unterstellen, stellt in der Folge einen wichtigen Pfeiler dafür dar, dass das Judentum jahrhundertelang ohne eigenen Staat überdauern konnte. Durch das Prinzip »dina de-malchuta dina« wird dabei sichergestellt, dass die Geltung der Halacha nicht mit der Einhaltung des Rechts des Landes, in dem sich die Juden jeweils befinden, in Konflikt gerät.

Diese Fokussierung auf Recht und Gesetz als Grundlage des Gemeinwesens ist eine Idee, die die Welt eroberte und auch moderne Demokratien auszeichnet. Für diese sind der Rechtsstaat mit seinen Gesetzen und deren Einhaltung als Grundlage des Zusammenlebens nicht weniger zentral als beispielsweise freie Wahlen.

grundgesetz Gerade in Deutschland können wir eine Hinwendung zum Gesetz als zentrale Grundlage der Gesellschaft erkennen. Zum Tag des Grundgesetzes am 23. Mai hat Justizminister Marco Buschmann etwa erst vor Kurzem ausgeführt: »Unser Grundgesetz ist eine echte Erfolgsgeschichte. Seit 73 Jahren bildet es das stabile Fundament unserer Demokratie. (…) Die Werte des Grundgesetzes sind tief in unseren Herzen verankert, und unsere Demokratie ist quicklebendig.«

An Schawuot lernen Juden die ganze Nacht die Tora. Die Tora wird quasi jedes Jahr neu empfangen.

Diese Hinwendung zum (Grund-)Gesetz mit seinen Garantien des Rechtsstaats und der Grundrechte mag auch durch die geschichtliche Erfahrung bedingt sein, dass infolge eines Wahlprozesses die furchtbarsten Jahre der Geschichte Deutschlands hervorgerufen wurden.

An Schawuot lernen Juden die ganze Nacht die Tora. Die Tora wird quasi jedes Jahr neu empfangen. Es ist also keine Selbstverständlichkeit, die Errungenschaften früherer Generationen zu bewahren und sich zu eigen zu machen.

Es sind diese Dinge, die unsere Erkenntnisse am Leben erhalten und sicherstellen, sie nicht zu verlieren. Auch dies kann eine Lehre des Judentums für die Gesamtgesellschaft sein: Es gibt keine Selbstverständlichkeiten, und wer keine Anstrengungen unternimmt, die Errungenschaften der Vergangenheit sich durch Handlungen zu eigen zu machen, droht sie zu verlieren.

Der Autor ist Richter in Berlin und Vorsitzender von Kahal Adass Jisroel.

Wajischlach

Wahre Brüder, wahre Feinde?

Die Begegnung zwischen Jakow und Esaw war harmonisch und belastet zugleich

von Yonatan Amrani  13.12.2024

Talmudisches

Licht

Was unsere Weisen über Sonne, Mond und die Tora lehren

von Chajm Guski  13.12.2024

Hildesheimer Vortrag

Das Beste im Menschen sehen

Der Direktor der Yeshiva University, Rabbiner Ari Berman, zeigt einen Ausweg aus dem Frontendenken unserer Zeit

von Mascha Malburg  13.12.2024

Debatte

Rabbiner für Liberalisierung von Abtreibungsregelungen

Das liberale Judentum blickt anders auf das ungeborene Leben als etwa die katholische Kirche: Im jüdischen Religionsgesetz gelte der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständige Person, erklären liberale Rabbiner

von Leticia Witte  11.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Palästinensertuch

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024

Wajeze

»Hüte dich, darüber zu sprechen«

Die Tora lehrt, dass man ein Gericht anerkennen muss und nach dem Urteil nicht diskutieren sollte

von Chajm Guski  06.12.2024

Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024

Hildesheimer Vortrag 2024

Für gemeinsame Werte einstehen

Der Präsident der Yeshiva University, Ari Berman, betonte die gemeinsamen Werte der jüdischen und nichtjüdischen Gemeinschaft

von Detlef David Kauschke  05.12.2024