Batmizwa

Etwas unorthodox

Tochter der Pflicht: Die Batmizwa gilt mit zwölf Jahren als erwachsenes Mitglied der Gemeinde. Foto: BBM

Felissa, Angelica, Maya – ich bin Vater dreier Töchter, ein Umstand, der mich dazu brachte, die jüdische Tradition und jüdischen Rituale auf eine Weise zu hinterfragen, die ich in meiner Jugend nicht für möglich gehalten hätte. Ich wuchs in einem modernen orthodoxen Zuhause in Brooklyn auf; meine Eltern waren Flüchtlinge. Ich besuchte die Jeschiwa. Obwohl ich in der Theorie immer Feminist war, begann ich erst mit Anfang 40, nachdem meine Töchter geboren waren, mein Wissen zu vertiefen und kurz danach auch meinen Überzeugungen entsprechend zu handeln.

Insbesondere gelangte ich immer mehr zu der Gewissheit, dass wir uns mit den Beschränkungen, die den Frauen in der jüdischen Tradition auferlegt sind, beschäftigen und sie überwinden müssen. Meine Frau Raquel und ich setzten uns zum Ziel, für unsere Töchter und in der Fortschreibung für alle jüdischen Frauen innerhalb der Tradition Raum zu schaffen. Unser Bemühen spiegelte sich nicht nur in der Art und Weise, wie wir unsere Töchter erzogen, sondern auch darin, wie wir die Batmizwa-Zeremonie gestalteten.

Es gibt einen Segen, der mir in einem italienischen Siddur von Abraham Farissol aus dem 15. Jahrhundert in der Bibliothek des Jewish Theological Seminary begegnet war: »Gesegnet ... dass ich als Frau und nicht als Mann geschaffen wurde.« Ich habe meine Töchter so erzogen, dass sie diesen schlichten, aber tiefgründigen Satz zu ihrer Maxime machen, für das Leben im Allgemeinen und im Kontext der jüdischen Tradition und des jüdischen Rituals im Besonderen.

Zeremonie Anlässlich ihrer Batmizwa hielten alle drei meiner Töchter nicht nur eine Rede vor den Mitgliedern der von uns besuchten orthodoxen Synagoge in Südflorida, sie leiteten auch einen nicht in der Synagoge stattfindenden Gottesdienst für Frauen, lasen aus der Sefer Tora und erhielten eine Alija zur Tora.

Die Geschichte, wie es dazu kam, dass wir die Batmizwa unserer Töchter auf diese Weise feierten, beginnt mit der Simchat-Bat-Zeremonie für unsere Jüngste, Maya. Bei meinen beiden ersten Töchtern feierten wir nach der Geburt eine Party. Als 1996 meine dritte Tochter geboren wurde, hielten meine Frau und ich eine Simchat-Bat-Zeremonie ab, um Maya förmlich und rituell willkommen zu heißen, sie in den Bund, in unser Volk und in unsere Familie aufzunehmen. Obwohl Simchat-Bat-Zeremonien damals durchaus nicht unbekannt waren, waren sie bei den Mitgliedern der Gemeinde in unserem neuen Heimatort in Südflorida nicht gebräuchlich. Unsere älteste Tochter Felissa war zu der Zeit neun, und ich dachte darüber nach, wie wir ihre Batmizwa feiern könnten. In gewisser Hinsicht war die Simchat-Bat-Zeremonie für Maya ein Probelauf für Felissas Batmizwa; und das Nachdenken über die zukünftige Feier inspirierte uns, die Simchat-Bat-Zeremonie abzuhalten.

Simchat Bat Als ich den Text des Simchat-Bat-Gottesdiensts erstellte, verließ ich mich – was den Aufbau und Kontext betraf – auf die Brit-Zeremonie sowie auf mehrere bereits existierende Vorbilder. Ich ließ mich von namhaften Denkern und Rabbinern beraten. Ich redigierte bestehende Gebete, manchmal auf sehr subtile Weise und manchmal durch gravierende Eingriffe. Wie sehr diese Zeremonie Familie und Gäste mit Freude erfüllen würde, hatten wir nicht vorausgesehen. Sie war eine bereichernde Erfahrung und verlieh uns die Zuversicht, mit den Überlegungen zu Felissas Batmizwa fortzufahren.

Unser Ziel war es, eine Zeremonie zu gestalten, die es Felissa erlaubte, an dem Gottesdienst 100-prozentig teilzunehmen und gleichzeitig innerhalb der generellen, vom traditionellen Judentum und unserer Synagoge gesetzten Parameter zu verbleiben. Wir besuchten eine Reihe von Batmizwas bei einer Tefillin-Frauengruppe in New York, doch unsere Synagoge war noch nicht bereit, einen solchen Gottesdienst abzuhalten. Gleichzeitig wollten wir einen Schritt hinausgehen über das, was bereits gemacht wurde.

Ziele Im Ergebnis fanden wir eine Lösung, die, so hofften wir, sowohl unseren Zielen gerecht wurde als auch die Synagogengemeinde einschloss. Wir nutzten einen Veranstaltungsraum in einer Wohnanlage in der Nähe unserer Synagoge und statteten ihn mit einer Bima, einem Aron und einer Sefer Tora, beides geborgt, aus. Felissa leitete den Schacharit und las aus der Tora und Haftara-Abschnitte vor einer Gruppe von etwa 100 Frauen und mehreren Männern (die saßen hinter einer improvisierten Mechitza, Abtrennung).

Der Gottesdienst war tief bewegend. Einige der zur Alija gerufenen Frauen weinten, während sie das traditionelle Gebet rezitierten. Hinterher sagte eine der Frauen: »Ich habe Hunderte von Jungen zur Tora gehen und das Gebet aufsagen hören, also kannte es sehr gut. Aber mir wurde nie erlaubt, Teil davon zu sein. Als ich die Wörter tatsächlich aussprach, fühlte ich zum ersten Mal, dass meine Anwesenheit zählt, dass sie sich darauf verließen, dass ich dieses Gebet sprach, und ich fühlte eine spirituelle Verbindung mit Gott wie nie zuvor.«

Gegen 11 Uhr marschierte die ganze Gruppe zur Synagoge, um rechtzeitig zur Toralesung und dem Mussaf-Gottesdienst da zu sein. Ich hatte die Maftir-Alija und las die gleiche Haftara, die Felissa am Morgen gelesen hatte. Nachdem der Gottesdienst zu Ende war, hielt Felissa vor den Gemeindemitgliedern eine Rede. Viele der Gäste hatten ihre Tallitot absichtlich angelassen, um zu zeigen, dass der Gottesdienst eigentlich noch nicht beendet war. In ihrer Rede sagte Felissa: »Heute Morgen war ich Chasanit bei einem Gottesdienst. Viele von euch werden das für unorthodox und einige gewiss für nicht orthodox halten, aber ich bin dankbar für die Teilnahme an diesem Gottesdienst und will jetzt diesen Teil meiner Batmizwa mit euch allen in der Synagoge teilen.« Ihre Schwestern äußerten sich später ähnlich bei ihren Feiern.

Angeregt durch die Zeremonie von Felissa, entschloss sich eine ganze Reihe der anwesenden Frauen, auch für ihre eigenen Töchter eine solche Batmizwa abzuhalten. Viele begannen sich für die Frage Judentum und Feminismus zu interessieren; andere schlossen sich Tefillin-Gruppen oder Tora-Lerngruppen für Frauen an. Über die Mailingliste von Chabad erfuhr ein noch größeres Publikum davon.

Vorbereitung Felissas Batmizwa verlangte eine Menge Vorbereitung. Sie studierte monatelang mit einem Hauslehrer, Ronnie Becher aus Riverdale, eine treibende Kraft in der orthodoxen Feminismus-Bewegung, und Blu Greenberg, Pionierin des orthodoxen Feminismus, half uns, den Gottesdienst zu gestalten. Ich verließ mich auf ihr Wissen und das Feedback, das sie uns gaben.

Als die Zeit für Angelicas Batmizwa gekommen war, waren wir schon viel sicherer und bereiteten die Zeremonie selbst vor. Sie war natürlich in vielerlei Hinsicht der von Felissa ähnlich; wir hatten uns aber dafür entschieden, den Tefillin-Frauengottesdienst am Donnerstagmorgen abzuhalten, um ihm einen intimeren Rahmen zu verleihen und damit wir den ganzen Schabbat-Gottesdienst mit den Gemeindemitgliedern verbringen konnten. Zudem leitete Angelica am Freitagabend einen Kabbalat-Schabbat-Gottesdienst in der Synagoge im Schlomo-Carlebach-Stil. Eine große Gruppe von Frauen nahm daran teil, einschließlich der Rebbezin, die weniger als drei Jahre davor unsere Ausgestaltung von Felissas Batmizwa überhaupt nicht zu schätzen gewusst hatte. Auch Maya leitete Donnerstags- und Freitags-Gottesdienste anlässlich ihrer Batmizwa.

Angelica hatte mit einem Privatlehrer studiert, um sich auf ihre Batmizwa vorzubereiten. Doch als die Zeit für Maya herankam, fühlte ich mich selbst der Aufgabe gewachsen – so wie traditionellerweise Väter mit ihren Söhnen lernen, übernahm ich es, Maya zu unterrichten. Alle drei Töchter lernten aus dem gleichen Tikkun, das ich benutzt hatte, um mich auf meine Barmizwa vorzubereiten.

Reaktionen Die Reaktionen auf die Art und Weise, wie wir die Batmizwas unserer Töchter feierten, waren ganz verschieden. Anfang 2000, zu Felissas Batmizwa, galt unser Ansatz noch als revolutionär. Ob-wohl viele Gäste tief bewegt waren, gab es an diesem Tag auch Leute in der Synagoge, die empört waren; ein paar davon verließen das Bethaus. Ende 2008, als die Batmizwa von Maya stattfand, hatte sich die Situation verändert – Frauen sind viel eher anerkannt und füllen mehr Rollen aus: 2009 erlebten wir schließlich die Ordination von Rabbinerin Sara Hurwits.

Doch immer noch gab es zu jeder unserer drei Batmizwas Menschen, die es ablehnten, an der Zeremonie teilzunehmen: diejenigen, die sich dabei unbehaglich fühlten, und solche, die strikt dagegen waren und halachische Vorschriften aus dem Talmud zitierten, insbesondere natürlich Kidduschin 80b: »Frauen sind ihrem Geist nach leichtsinnig.« Wir reagierten darauf, indem wir erklärten, dass wir diese Aussage ablehnen, wie alle aufgeklärten Menschen. Stattdessen hielten wir uns an Maimonides, der in seinem Buch Führer der Unschlüssigen (2,13) festhält, wir sollten uns von unserem Verstand leiten lassen, um zu erkennen, wann wir etablierte Wahrheiten akzeptieren und wann wir diese ablehnen müssen. Zudem stellt Maimonides in seinem Brief über Astrologie fest – insbesondere in Bezug auf Talmud und Midraschim –, dass bestimmte Aussagen der Weisen »gemacht wurden in Hinblick auf die Zeit, in der sie lebten, oder in Bezug auf die Angelegenheiten, mit denen sie sich gerade befassten«.

Buch Es war immer meine Hoffnung, dass die Herangehensweise meiner Familie an Batmizwa- und Simchat-Bat-Zeremonien anderen Menschen als Vorbild dienen könnte. Wir veröffentlichten unsere Erfahrungen daher in dem Buch Für eine sinnvolle Bat Mitzwa. Es umfasst unter anderem die Schilderung des Gottesdienstes, die Reaktionen einiger Gäste, ein Kapitel über Vorschläge, wie man der Batmizwa-Zeremonie Sinngehalt hinzufügen kann, Stellungnahmen von Rabbi Yitz Greenberg und Rabbi Saul Berman, und eine Checkliste und Liste von Hilfsquellen.

Als sie vor zwei Jahren über ihre Batmizwa nachdachte, fragte Felissa: »Wäre es nicht toll, in einer Umgebung zu leben, in der beide Hälften der Gemeinde als gleichberechtigte Partner wirkten?« Ja, das wäre es. Entscheidend ist, dass die heutigen rabbinischen Autoritäten einen halachischen Weg finden, um den religiösen Bedürfnissen der einen Hälfte der jüdischen Bevölkerung Rechnung zu tragen. Und die Batmizwa ist nur der Beginn.

Der Autor ist Präsident der Targum Shlishi Foundation in Florida/USA. Das Batmizwa-Buch kann als pdf kostenlos heruntergeladen werden: www.targumshlishi.org

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