Rabbiner Jehoschua Ahrens

»Es geht um Wertschätzung«

Ein Gespräch über orthodoxe Perspektiven im jüdisch-christlichen Dialog

von Tobias Kühn  03.06.2021 08:13 Uhr

Seit einigen Jahren im Vorstand des Deutschen Koordinierungsrates: Rabbiner Jehoschua Ahrens Foto: Markus Forte

Ein Gespräch über orthodoxe Perspektiven im jüdisch-christlichen Dialog

von Tobias Kühn  03.06.2021 08:13 Uhr

Herr Rabbiner, in den vergangenen Jahrzehnten war der interreligiöse Dialog jüdischerseits vor allem eine Domäne der Liberalen. Nun wollen sich auch die Orthodoxen stärker einbringen. Wie kommt es zu diesem Wandel?
Das stimmt für Deutschland, aber nicht für andere europäische Länder. Doch auch hier bei uns beteiligen wir Orthodoxen uns seit 20 Jahren wieder intensiver am Dialog. Die Kirchen haben nach der Schoa sehr klar ihre bisherige Position zu Juden und zum Judentum korrigiert. Wir haben gemerkt, dass der Wandel der christlichen Seite, der in den 60er-Jahren begonnen hat, tatsächlich ernst und langfristig gemeint ist. Dies hat zu Begegnungen und zu einem echten Dialog auf Augenhöhe geführt. Aber ich betone: Wir knüpfen da an etwas an.

Inwiefern?
Bereits vor der Schoa gab es etliche orthodoxe Dialoginitiativen. Auch in Deutschland war die Orthodoxie im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 30er-Jahre hinein sehr um einen Dialog bemüht. Man hat sich sehr positiv und wohlwollend über das Christentum geäußert – doch fand dies in jener Zeit auf christlicher Seite kaum Resonanz. Heute kann man sich das kaum mehr vorstellen: Damals war es eher die jüdische Seite, die den Dialog suchte, und die Christen wollten es nicht. Heute hat es manchmal den Anschein, als sei es umgekehrt – obwohl das ja so auch nicht mehr ganz stimmt.

Die Schoa hat bei der Kirche einen Wandel bewirkt …
Auf beiden Seiten gab es einen Wandel. Auf jüdischer Seite wurde man viel vorsichtiger und sagte: Wenn die Kirche jetzt nicht ihre Lehre ändert, sondern genauso weitermacht, auch mit der Judenmission, wie können wir da in einen Dialog mit ihr treten? Und auch, wenn es dann nochmal 20 Jahre gedauert hat, haben die Kirchen doch tatsächlich Veränderungen vorangebracht. All dies geschah unter dem Eindruck der Schoa, auf beiden Seiten.

Sie sitzen als orthodoxer Rabbiner seit ein paar Jahren im Vorstand des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR). Inwiefern bringen Sie dort orthodoxe Perspektiven ein?
Wir orthodoxen Rabbiner fühlen uns an eine Tradition gebunden, dazu gehören auch bestimmte Regeln der Textauslegung. Wir können deshalb bestimmte Überzeugungen nicht einfach über Bord werfen – und wir verstehen auch, wenn es auf christlicher Seite genauso ist. Das heißt: Wir wissen, dass es Dinge gibt, die uns verbinden, und dass es theologische Punkte gibt, bei denen es keine Einigung geben kann.

Wo stößt der Dialog an seine Grenzen?
Es gibt Dinge, die wir nicht verhandeln können, zum Beispiel auf christlicher Seite die Christologie oder die Trinität – das sind Dinge, da werden wir natürlich nie eine Einigung finden. Aber das müssen wir auch gar nicht! Wir sind zwei verschiedene Glaubensgemeinschaften, und das wird auch so bleiben. Wichtig ist, dass es viel mehr Gemeinsamkeiten gibt als Trennendes, und darauf können wir uns konzentrieren. Wir können gemeinsam viele Dinge tun zum Wohle aller. Ich sehe den Dialog nicht als eine Gleichmacherei, sondern dass man aus der eigenen Tradition heraus die andere Seite wertschätzt, als eigenständige Religion akzeptiert und gemeinsam partnerschaftlich zusammenarbeitet.

In welchen Bereichen können Juden und Christen an einem Strang ziehen und gemeinsam mehr erreichen als allein?
Ich glaube, da gibt es viele gesellschaftspolitische Themen oder auch, was gemeinsame Werte und eine gemeinsame Ethik angeht. Darüber hinaus sehen wir, dass wir uns auch in theologischen Fragen durchaus gegenseitig bereichern können und voneinander lernen.

Der jüdisch-christliche Dialog gilt manchen als Veranstaltung, bei der man über theologische Feinheiten fachsimpelt. Was entgegnen Sie dieser Kritik?
Da kann natürlich schon etwas Wahres dran sein. Manchmal ist er tatsächlich eher für ein Fachpublikum. Wir müssen mehr hinausgehen zu den Menschen. Es ist wichtig, dass wir unsere jüdischen Gemeinden stärker erreichen – und die sind nun mal größtenteils orthodox geprägt. Leider gibt es aber im Koordinierungsrat noch viele Vorurteile gegenüber dem orthodoxen Judentum. Ich finde, die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in den einzelnen Städten sollten stärker in den lokalen jüdischen Gemeinden verankert sein. Wir müssen es schaffen, dass sich unsere Gemeindemitglieder mit dem interreligiösen Dialog identifizieren.

Sie sprachen gerade von Vorurteilen. Von liberaler Seite hört man gelegentlich, die Orthodoxen würden das Christentum als Götzendienst betrachten.
Das Judentum ist vielfältig und hat verschiedene Positionen. Sicher gibt es auch orthodoxe Juden, die meinen, dass das Christentum Götzendienst ist. Aber ich kann mit Gewissheit sagen, dass die übergroße Mehrheit der orthodoxen Rabbinerkollegen ganz sicher diese Meinung nicht teilt, wie es ja eben auch in den beiden orthodoxen Erklärungen zum Christentum geäußert wurde. In der rabbinischen Erklärung »Den Willen unseres Vaters im Himmel tun« (2015) steht, »dass das Christentum weder ein Zufall noch ein Irrtum ist, sondern göttlich gewollt und ein Geschenk an die Völker«. Und in der Erklärung »Zwischen Jerusalem und Rom« (2017) wird von Christen als »Brüdern und Partnern« gesprochen.

Im dreiköpfigen Präsidium des Koordinierungsrates sitzen derzeit eine katholische Religionslehrerin, ein evangelischer Pfarrer und ein liberaler Rabbiner. Bei der Mitgliederversammlung am vergangenen Sonntag wurde darüber diskutiert, ob zusätzlich auch ein Orthodoxer im Präsidium sitzen sollte.
Es gab einen Antrag der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Wetterau, die sich ein orthodoxes Präsidiumsmitglied wünscht. Der Vorstand fand die Idee anfangs gut und fragte die Orthodoxe Rabbinerkonferenz (ORD) nach ihrer Meinung. Die ORD hat sich gefreut und erklärte, es bestehe Interesse daran, das orthodoxe Judentum stärker im Koordinierungsrat abzubilden. Die Diskussion in der Mitgliederversammlung am Sonntag hat aber gezeigt, dass es offensichtlich noch viel Widerstand gegen eine solche Idee gibt.

Ist die Idee damit begraben?
Nein. Der Vorstand ist beauftragt worden, eine Kommission zu gründen, die sich mit Satzungsänderungen beschäftigt. Ich wünsche mir, dass der Koordinierungsrat versteht, die Vielfalt der jüdischen Strömungen in einer so wichtigen Organisation abzubilden, und erwarte, dass der Vorstand dementsprechend dafür sorgen wird, dass die Orthodoxie auch in der Struktur des Koordinierungsrats gleichberechtigt abgebildet wird. In einem Jahr wird turnusgemäß ein neues Präsidium gewählt, daher sollte noch davor eine Lösung gefunden werden.

Stichwort Gleichberechtigung: Da liegt es wohl nahe, auch darüber nachzudenken, dass einer der beiden künftigen jüdischen Präsidenten eine Präsidentin sein wird.
Auf jeden Fall! Auch wenn es eine orthodoxe Vertretung im Präsidium des Koordinierungsrats geben sollte, bedeutet es nicht, dass dies ein Mann sein muss, und es muss auch kein Rabbiner sein. Selbstverständlich kann dies eine Frau sein, das fände ich sehr gut und würde es voll unterstützen.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Vor allem junge Menschen sind kaum interessiert am jüdisch-christlichen Dialog. Mit welchen Argumenten würden Sie einen jungen Orthodoxen versuchen zu überzeugen, sich daran zu beteiligen?
Es ist wichtig, dass wir die Lebensrealität der jüngeren Menschen ansprechen. Früher lag ein Schwerpunkt auf der Versöhnungsarbeit. Die Erinnerungsarbeit ist nach wie vor sehr zentral, aber um junge jüdische Menschen zu motivieren, im Dialog aktiv zu sein, muss es mehr darum gehen, junges jüdisches Leben heute und junges christliches Leben heute in Begegnung zu bringen.

Mit dem Mitteleuropa-Direktor des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) sprach Tobias Kühn.

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