Mit der Verkündung von Nostra Aetate im Jahr 1965 leistete die katholische Kirche einen tiefgreifenden Beitrag zu dem, was als »kopernikanische Wende« in den jüdisch-christlichen Beziehungen bezeichnet wurde. Papst Johannes XXIII. soll in Bezug auf das Konzil gesagt haben, er wolle »die Fenster der Kirche weit öffnen«. Mit Nostra Aetate wurden die »Fenster« der interreligiösen Beziehungen tatsächlich aufgestoßen. In den Jahrzehnten seither ist der interreligiöse Dialog zu einem festen Bestandteil des kirchlichen Lebens geworden.
Interessanterweise wurde während des Konzils intensiv darüber diskutiert, ob eine Erklärung über die Juden ein eigenständiges Dokument oder Teil einer umfassenderen Abhandlung über die Beziehungen zu anderen Religionen werden sollte. Letztere Option setzte sich schließlich durch. Dennoch zeigt sich die besondere Beziehung zwischen Kirche und Judentum deutlich im Text von Nostra Aetate selbst und prägt bis heute die Haltung der Kirche gegenüber dem jüdischen Volk.
Zunächst einmal ist das vierte Kapitel über die Juden deutlich länger als die übrigen Abschnitte und behandelt das Judentum auf eine andere Weise als die anderen Religionen. Es spricht von der geistigen »Verbindung« und dem gemeinsamen »Erbe«, das Juden und Christen teilen, und erkennt an, dass die Wurzeln der Kirche im Alten Testament und im jüdischen Volk liegen. Indem Nostra Aetate sowohl die Anklage des Gottesmordes – also die Vorstellung, »die Juden« seien für den Tod Jesu verantwortlich – als auch die daraus abgeleitete Idee verwirft, Gott habe die Juden verstoßen, lehnt die Erklärung jene beiden Konzepte ab, die laut dem Historiker Jules Isaac im Zentrum der jahrhundertelangen »Lehre der Verachtung« gegenüber Juden und Judentum standen.
Dieser Bruch mit einer jahrhundertelangen Tradition ist eines der entscheidenden Merkmale von Nostra Aetate, insbesondere des vierten Kapitels. Zugleich erkennt der Text – zumindest implizit – den organischen Zusammenhang zwischen christlichem Antijudaismus und dem westlichen Antisemitismus an, der letztlich in der nationalsozialistischen »Endlösung« kulminierte. Dies dürfte auch der Hintergrund für die unmissverständliche Aussage sein, dass die Kirche »Hass, Verfolgungen und alle Erscheinungsformen des Antisemitismus, die sich gegen Juden zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem richten, verabscheut«.
Während andere christliche Kirchen und Organisationen ähnliche Themen bereits zuvor behandelt hatten, verhalf die weltweite Bedeutung der römisch-katholischen Kirche Nostra Aetate dazu, zu einem Symbol des grundlegenden Wandels im jüdisch-christlichen Dialog in der Nachkriegszeit zu werden.
1965 ließ die Kirche von der Idee ab, Gott habe die Juden verstoßen.
Wie die meisten Revolutionen ist auch die von Nostra Aetate eingeleitete Transformation der jüdisch-katholischen Beziehungen ein fortlaufender Prozess. Kapitel vier mag das längste der Erklärung sein, doch umfasst es nur etwas mehr als 600 Wörter – zu wenig, um komplexe theologische Fragen umfassend zu beantworten. Einige der bedeutendsten Themen im Verhältnis zwischen Juden und Katholiken werden gar nicht erwähnt oder nur am Rande angedeutet.
Einige Beobachter sehen darin schwerwiegende Auslassungen. Nostra Aetate vermeidet es sorgfältig, auf den Staat Israel oder die Wiedererlangung jüdischer Souveränität einzugehen, und betont ausdrücklich, dass die Erklärung »nicht aus politischen Gründen« verfasst wurde. Auch die Schoa wird nicht ausdrücklich erwähnt, obwohl dieses Ereignis die gesamte Erklärung durchdringt und ihre Haltung zum Antisemitismus eindeutig prägt.
Neben ihren theologischen und historischen Dimensionen enthält Nostra Aetate auch einen praktischen Aufruf: Sie befürwortet ausdrücklich gemeinsame »biblische und theologische Studien sowie brüderliche Gespräche«. Ein sichtbares Zeichen der Wirkung dieser Aufforderung ist die Vielzahl solcher Dialoge, die sich in den vergangenen 60 Jahren entwickelt hat. Vom Vatikan über nationale Bischofskonferenzen bis hin zu einzelnen Pfarreien – vor allem dort, wo auch jüdische Gemeinden bestehen – zeigt sich der Einfluss von Nostra Aetate in einer breiten Palette interreligiöser Initiativen.
Viele der Themen, die in der ursprünglichen Erklärung unberührt blieben, wurden in späteren vatikanischen Dokumenten aufgegriffen und vertieft – zuletzt 2015 in einer Erklärung, die nach einem Vers im Neuen Testament benannt ist: »Gottes Gaben und seine Berufung nimmt er nicht zurück.« Bemerkenswert ist dabei, dass die vatikanische Kommission bei der Erarbeitung dieses Dokuments jüdische Gelehrte ausdrücklich einlud, Kommentare beizusteuern – ein außergewöhnliches Beispiel brüderlichen Dialogs. Ebenfalls zu nennen ist das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 2002, »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel«.
1993 wurden diplomatische Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staat Israel aufgenommen. Bilder päpstlicher Besuche in Israel, in Synagogen in Rom und in Auschwitz vermitteln kraftvolle Botschaften, die oft eine größere Wirkung entfalten als Texte, die leider nur von einer kleinen Gruppe von Fachleuten studiert werden.
Doch der Aufbau einer positiven Beziehung – insbesondere nach Jahrhunderten des Misstrauens – ist ein heikler Prozess. Die anfängliche jüdische Reaktion auf die Verkündung von Nostra Aetate war im Allgemeinen positiv, doch blieben die zuvor erwähnten Auslassungen und offenen Fragen nicht unbemerkt. Darüber hinaus enthält die Erklärung Passagen, die als problematisch empfunden wurden.
Die Formulierung »Zwar drängten die jüdischen Behörden und diejenigen, die ihrem Beispiel folgten, auf den Tod Jesu« beruht auf überholter Bibelforschung; obwohl sie den Vorwurf des Gottesmordes abwehren will, geht sie manchen nicht weit genug. Auch der Satz »Die Kirche ist das neue Volk Gottes« klingt für manche nach Substitutionstheologie, also der Vorstellung, die Kirche habe Israel als Gottesvolk ersetzt.
Ich höre regelmäßig von christlichen Freunden und Kollegen – nicht nur Katholiken –, dass Predigten weiterhin alte Stereotype bedienen, Juden als »Gottesmördervolk« bezeichnen oder andere antisemitische Vorurteile wiederholen. Dies wirft ernsthafte Fragen über die religiöse Bildung in Seminaren und Schulen auf. Wenn offizielle Dokumente und moderne Bibelforschung nicht gelehrt werden, lebt die alte Theologie fort. Die Anerkennung der Bedeutung jüdisch-katholischer Beziehungen und ihre Priorisierung erfordert eine starke institutionelle Führung.
Ein weiteres Hindernis ergibt sich aus der globalen Entwicklung des Christentums. Da sich das Zentrum des Christentums zunehmend in den globalen Süden verlagert, werden viele Christen Juden künftig nur noch durch die Bibel oder theologische Studien begegnen. Was soll sie motivieren, sich mit den Veränderungen im jüdisch-christlichen Verhältnis zu befassen?
Auch der Wandel in der Wahrnehmung der Schoa spielt eine Rolle. Da sie aus dem lebendigen Gedächtnis schwindet und neue Gräueltaten geschehen, nimmt ihre unmittelbare Wirkung ab. Das Bild der Juden als Opfer, das nach 1945 vorherrschte, hat sich verändert – beeinflusst durch Israels militärische Stärke und den politischen Einfluss der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft, beides häufig überzeichnet oder durch klassische antisemitische Verschwörungstheorien verzerrt. Welche langfristigen Folgen die jüngsten Entwicklungen auf diese Dynamik haben, lässt sich noch nicht absehen.
Die Erklärung vermied das Thema Israel. Auch später blieb man vage.
Ich erwähnte bereits, dass Nostra Aetate den Staat Israel nicht nennt. Die später eingeführten Richtlinien der katholischen Kirche von 1985 zeichnen eine eher ambivalente Haltung: »Christen sind eingeladen, jenes religiöse Band zu verstehen, das seine Wurzeln in der biblischen Tradition hat, ohne sich jedoch eine bestimmte religiöse Deutung dieses Verhältnisses zu eigen zu machen. (…) Die Existenz des Staates Israel und seine politischen Entscheidungen sind nicht aus einer an sich religiösen Perspektive, sondern nach den gemeinsamen Prinzipien des Völkerrechts zu betrachten.«
Diese Aussage spricht lediglich von einem »religiösen Band«, das Juden mit dem Land Israel verbinden könnte. Sie erkennt jedoch weder die existenzielle Bedeutung an, die die meisten Juden der Staatsgründung beimessen, noch die familiäre Verbundenheit und das historische Trauma, das Diaspora- und israelische Juden eint. Das bedeutet nicht, dass Katholiken oder Christen die Politik Israels nicht kritisieren dürften – wohl aber, dass ein größeres Bewusstsein für diese Sensibilitäten hilfreich wäre, insbesondere bei der Berufung auf biblische Texte.
In den vergangenen zwei Jahren gab es Kritik an den politischen Maßnahmen der israelischen Regierung seitens des Vatikans, des Ökumenischen Rates der Kirchen und anderer christlicher Organisationen. Vertreter Israels sowie andere Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft betrachteten diese Kritik als ungerecht und in einigen Fällen als antisemitisch. Dies ist ein heikles Thema, und es existiert eine große Bandbreite an Meinungen – sowohl zwischen als auch innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften. Die Debatte über den Krieg hat Brüche in persönlichen und institutionellen Beziehungen verursacht; es war eine schwierige und schmerzhafte Zeit.
Der Krieg hat zudem eine bereits zuvor dramatische Zunahme antisemitischer Vorfälle und Rhetorik in den vergangenen Jahrzehnten weiter angeheizt. Die Empörung über die Handlungen der israelischen Regierung dient häufig als Vorwand, um Juden und jüdische Institutionen anzugreifen. Einige haben die Hoffnung geäußert, dass der Waffenstillstand die Möglichkeit eröffnen könnte, ein erneutes Gespräch aufzunehmen, das die vergangenen zwei Jahre berücksichtigen muss.
Das Bedürfnis nach einem neuen Dialog ist jedoch schon lange erkannt worden. Bereits 2023 – vor dem 7. Oktober – veröffentlichte der Lutherische Weltbund das Dokument »Hoffnung für die Zukunft: Ein Studienpapier zur Erneuerung der jüdisch-christlichen Beziehungen«. 2019 publizierte die Kommission für Glaube und Kirchenverfassung der Church of England »Gottes unfehlbares Wort: Theologische und praktische Perspektiven auf christlich-jüdische Beziehungen«. 2022 gaben die Church of Scotland und das Büro des Oberrabbiners gemeinsam ein »jüdisch-christliches Glossar« heraus. Und 2024 veröffentlichte der Internationale Rat der Christen und Juden (ICCJ) einen pädagogischen Leitfaden mit dem Titel »Eine Zeit der Erneuerung des Engagements«.
All diese Dokumente fördern einen Dialog, wie er in der heutigen Realität notwendig ist. Und während Beziehungen an manchen Orten in die Brüche gegangen sind, wurden an anderen Brücken gebaut. Wir verfügen über das Handwerk – und wir wissen auch, wie wir sie reparieren.
Diejenigen von uns, die im interreligiösen Dialog tätig sind, vergessen manchmal, was für eine radikale und an vielen Orten sogar gegenkulturelle Idee wir leben: Religiöse Unterschiede so zu gestalten, dass sie eine Kraft für gesellschaftlichen Zusammenhalt und gemeinsames Handeln darstellen, ist in der Menschheitsgeschichte völlig neu. Auch wenn es gewiss entmutigend sein kann, sollten wir nicht überrascht sein, wenn Ereignisse uns überholen und den Fortschritt bedrohen, den wir glaubten erreicht zu haben. Es war ein seismisches Weltereignis – nämlich die Schoa –, das die modernen jüdisch-christlichen Beziehungen überhaupt erst ausgelöst hat.
Das Bewusstsein für das, was in den 60 Jahren seit der Verkündung von Nostra Aetate erreicht wurde, sollte uns das Vertrauen geben, dass wir die vor uns liegenden Herausforderungen bewältigen können – und dass wir dabei ein tieferes Verständnis füreinander sowie eine stärkere Freundschaft zwischen uns entwickeln werden.
Der Autor ist Präsident des Internationalen Rates der Christen und Juden (ICCJ). Seine Rede zur Rabbiner-Brandt-Vorlesung wurde für den Abdruck gekürzt. Sie ist bald in ganzer Länge auf der Website des Deutschen Koordinierungsrats zu finden.