Symbolik

Ein Ort, der niemandem gehört

»Bamidbar« (deutsch: »in der Wüste«): In dieser extrem unwirtlichen Gegend wurde dem Volk Israel einst die Tora gegeben. Foto: Flash 90

Der Abschnitt Bamidbar beginnt im 4. Buch Mose mit den Worten: »Und der Ewige redete mit Mose in der Wüste Sinai in der Stiftshütte am ersten Tage des zweiten Monats im zweiten Jahr, nachdem sie aus Ägyptenland gezogen waren« (1,1). 40 Jahre waren vergangen, seit die Israeliten aus Ägypten ausgezogen waren.

Sie hielten sich in der Wüste auf, und ehe sie in das verheißene Land einzogen, pausierten sie am Sinai. Hier kommt es zum Bundesschluss zwischen Gott und den Israeliten, zur Übergabe der Tora einschließlich der Gebotstafeln in zweifacher Ausfertigung.

Mosche war von Gott auf den Berg Sinai gerufen worden, um die Tora in Empfang zu nehmen. Einen Teil der Tora verschriftlichte er auf Geheiß Gottes, den anderen Teil durfte er dem Volk nur mündlich weitergeben. Während seines 40-tägigen Aufenthalts studierte er die schriftliche und die mündliche Tora. Dieses Studium bildete die Grundlage für den Toraunterricht, den er bis zu seinem Lebensende dem Volk Israel zuteilwerden ließ.

midrasch War nun die Übergabe der Tora in der Wüste ein Zufall? Oder hat es eine tiefere Bedeutung, dass Israel sie noch in der Wüste entgegennahm, kurz vor Betreten des verheißenen Landes?

Im Midrasch Rabba zu Bamidbar kommentieren unsere Weisen, dass es durchaus einen gewichtigen Grund für diesen Ort der Übergabe gab. Sie lehren, dass die Tora unter drei äußeren Umständen zu ihren Empfängern gelangte. Damit sind das Feuer, das Wasser und die Wüste gemeint.
Im 2. Buch Mose lesen wir vom Feuer: »Der ganze Berg Sinai aber rauchte, weil der Ewige auf den Berg herabfuhr im Feuer; und der Rauch stieg auf wie der Rauch von einem Schmelzofen, und der ganze Berg bebte sehr« (19,18).

In Richter 5,4 wird Gottes Offenbarung im Zusammenhang mit dem Wasser erwähnt: »Herr, als Du von Seïr auszogst und einhergingst vom Gefilde Edoms, da erzitterte die Erde, der Himmel troff, und die Wolken troffen von Wasser.«

Die Übergabe der Tora unter diesen drei Begleiterscheinungen von Wasser, Feuer und Wüste hat symbolische Bedeutung. Wie die Wüste keinem gehört, herrenlos ist, so frei und ungebunden gibt Gott sie jedem in die Hand, der sich für sie interessiert. Sie ist jedem frei zugänglich, der sie lernen möchte. Die Tora hat keinen Chef, der über sie verfügen und sie nur für sich beanspruchen könnte. Entsprechendes können wir vom Feuer und vom Wasser sagen. Beide sind Elemente, die allen Menschen gleichermaßen und bedingungslos zur Verfügung stehen, Elemente, die geeignet sind, uns Hinweise auf den für alle offenen Charakter der Tora zu geben.

Interessant ist, dass unsere Weisen diese Begleitumstände von Wüste, Wasser und Feuer noch auf den Gesichtspunkt des »umsonst« hin interpretieren. Die Tora ist – wie diese drei Elemente – zu haben, ohne dass jemand Geld oder Kapital für sie aufzubringen hätte.

überlieferung Doch warum hat sich die biblische Überlieferung nicht auf das Bild der Wüste beschränkt?
Welche anderen, unterschiedlichen Bedeutungen haben Wüste, Feuer und Wasser über die erwähnte hinaus, dass sie herrenloses Gut symbolisieren?

»Gibt es nicht auch andere Beispiele, die diese Symbolik des frei Zugänglichen zum Ausdruck bringen könnten?«, fragt Rabbi Jehuda Halevi (1075–1141). Er weist uns auf einen noch tieferen, differenzierten Zusammenhang der Toraübergabe im Rahmen von Wüste, Feuer und Wasser hin. So lesen wir im Talmud, dass drei Dinge den Menschen vom Toralernen abhalten: der Reichtum, die Armut und Jezer hara, der böse Trieb (Joma 35).

Die Reichen meinen, sie hätten keine Zeit zum Torastudium, weil sie von ihrem Geschäftsleben und ihren Geldangelegenheiten vollauf in Anspruch genommen werden. Die Armen argumentieren, dass sie den ganzen Tag mit der Sorge um ihre Existenzsicherung beschäftigt sind. Und die vom bösen Trieb Beherrschten sind nicht in der Lage, sich gegen diesen zu wenden. Er brennt in ihrem Herzen wie eine Flamme, die sich auf trockenem Feld durchfrisst.

Diese drei verschiedenen Verfasstheiten eines Menschen finden sich symbolisiert durch die Wüste, das Wasser und das Feuer. Die Wüste als ausgedörrter, öder und leerer Ort spiegelt den Zustand menschlicher Armut wider. Das Wasser steht für Sättigung, Segen, Reichtum und wirtschaftliche Prosperität. Das Feuer symbolisiert den bösen Trieb, der den Willen des Menschen zum Guten in Flammen aufgehen lässt und verzehrt.

Lernen Zurück zu unserer Ausgangsfrage: Warum wurde die Tora den Israeliten gerade in der Wüste ausgehändigt, von Gott, den Feuer und Wasser begleiten?

Diese Rahmenbedingungen sollen uns alle Argumente nehmen, wenn wir uns damit herausreden wollen, wir seien nicht in der Lage, Tora zu lernen, weil wir entweder arm oder reich oder vom bösen Trieb beherrscht sind.

Die Tora ist gerade unter diesen Ex­trembedingungen in die Welt gekommen, um schon von ihrem Ursprung her anzuzeigen, dass sie auf schwierigem menschlichen Terrain gelebt werden soll und kann – und sich das bewährt. Der Mensch muss allerdings wollen, er muss sich für das Toralernen entscheiden. Es gibt so gut wie keine Situation, in der er es nicht könnte.

Der Autor ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) und war bis 2011 Landesrabbiner von Sachsen.
inhalt

Paraschat Bamidbar
Am Anfang steht die Zählung aller wehrfähigen Männer, mit Ausnahme der Leviten. Sie sind vom Militärdienst befreit und nehmen die Stelle der Erstgeborenen Israels ein. Ihnen wird der Dienst im Stiftszelt übertragen. Bei ihnen soll von nun an jeder Erstgeborene ausgelöst werden. Zudem wird geregelt, welche Familien für den Auf- und Abbau des Stiftszelts verantwortlich sind.
4. Buch Mose 1,1 – 4,20

Berlin/Potsdam

Zentralrat der Juden erwartet Stiftung für Geiger-Kolleg im Herbst

Zum Wintersemester 2024/25 soll sie ihre Arbeit aufnehmen

 26.07.2024

Potsdam

Neuer Name für das Abraham Geiger Kolleg bekannt geworden

Die Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner soll nach Regina Jonas benannt werden

 26.07.2024

Pinchas

Der Apfel fällt ganz weit vom Stamm

Wie es passieren konnte, dass ausgerechnet ein Enkel Mosches dem Götzendienst verfiel

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  26.07.2024

Talmudisches

Das Leben im Schloss

Was unsere Weisen über die Kraft des Gebetes lehren

von Vyacheslav Dobrovych  26.07.2024

Armeedienst

Beten oder schießen?

Neuerdings werden in Israel auch Jeschiwa-Studenten rekrutiert. Unser Autor ist orthodoxer Rabbiner und sortiert die Argumente der jahrzehntelangen Debatte

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Ethik

Auf das Leben!

Was ist die Quintessenz des Judentums? Der Schriftsteller Ernest Hemingway hatte da eine Idee

von Daniel Neumann  19.07.2024

Balak

Verfluchter Fluch

Warum der Einsatz übernatürlicher Kräfte nicht immer eine gute Idee ist

von Rabbinerin Yael Deusel  19.07.2024

Talmudisches

Chana und Eli

Über ein folgenreiches Gespräch im Heiligtum

von Rabbiner Avraham Radbil  19.07.2024