Rosch Haschana

Es beeinflusst unser Schicksal, wie wir den Neujahrstag begehen

Foto: Getty Images

Alle jüdischen Feiertage haben ihre Besonderheiten, manche davon sind einfach nur »merkwürdig« – so die Tatsache, dass das jüdische Neujahrsfest zur Mitte des Jahres gefeiert wird. Dieses beginnt mit dem Monat Nissan, und der Monat Tischri, wenn wir Rosch Haschana feiern, ist bereits der siebte Monat des Jahres. Doch es gibt weitere Unklarheiten. Woher wissen wir überhaupt, dass an diesem Tag der Jahresanfang ist? Nicht viele werden diese Frage beantworten können. Denn in der Tora wird der 1. Tischri, also der Tag, an dem Rosch Haschana gefeiert wird, nirgendwo als Beginn des Jahres bezeichnet. Er wird lediglich »Jom Trua« (Tag des Klangs) genannt.

Die Quelle für dieses Datum finden wir in der ersten Mischna des Talmud-Traktats »Rosch Haschana«: »Vier Jahresanfänge gibt es: Mit dem ersten Nissan beginnt das Regierungs- und das Festjahr. (…) Der erste Tischri bildet den Jahresanfang hinsichtlich der Zeitrechnung, der Brach- und Jubeljahre, der Baumpflanzungen und der Gemüse.«

Am 1. Tischri werden alle Menschen gerichtet

Ferner heißt es in dem Talmud-Traktat, dass am 1. Tischri alle Menschen, egal ob Juden oder nicht, gerichtet werden: »Am Neujahrstag ziehen alle zur Welt Gekommenen wie bei einer Heerschau an ihm vorüber, denn es heißt: ›Der insgesamt ihr Herz gebildet, der auf alle ihre Taten achtet.‹« Wie wichtig dieser Tag vielen Rabbinern war, bezeugt eine Diskussion in diesem Traktat. So wird darüber gestritten, ob es richtig wäre, ohne Essenspausen den ganzen Tag zu beten. Zum Glück folgt die Halacha dieser Meinung nicht, und deshalb dürfen wir heute an Rosch Haschana nach den schönen Gebeten in der Synagoge zu Hause ordentlich zugreifen und Äpfel mit Honig, Granatapfelkerne, Gefilte Fisch und Lammfleisch genießen.

Jedoch gibt es in diesem Traktat auch eine Aussage, die für viele Juden schwer nachvollziehbar ist: »Drei Bücher werden an Rosch Haschana vor dem Heiligen, gepriesen sei Er, geöffnet: eines der bösen Menschen, eines der rechtschaffenen Menschen und eines der mittelmäßigen Menschen, bei denen sich gute und schlechte Taten die Waage halten. Absolut Gerechte werden sofort eingeschrieben und für das Leben besiegelt; absolut Böse werden sofort aufgeschrieben und für den Tod besiegelt; und für mittelmäßige Menschen wird das Urteil von Rosch Haschana bis Jom Kippur ausgesetzt, ihr Schicksal bleibt unentschieden.«

Daraus folgt, dass nur diejenigen, die absolut gut sind oder die sich bis Jom Kippur anstrengen, besser und »frommer« zu sein, in das Buch des Lebens eingeschrieben werden und weiterleben. Alle anderen finden sich im »schwarzen« Buch wieder und sollten mit dem baldigen Tod rechnen. Das klingt irritierend – schließlich gibt es nicht wenige Menschen, die weder koscher leben noch die Absicht haben, »frommer« zu werden. Und trotzdem leben sie munter weiter und haben oft auch noch ein ziemlich langes und spannendes Leben. Wie soll man das verstehen?

Die Antwort darauf lautet, dass ein Leben nicht gleich einem Leben ist. Die Schicksale zweier prominenter Juden verdeutlichen das. Joseph Bau, ein polnischer Jude, der durch den Film Schindlers Liste bekannt geworden ist, wurde als 19-jähriger Student vom Kriegsausbruch überrascht und findet sich zuerst im Krakauer Ghetto wieder. Zwei Jahre später wird er in das KZ Plaszow deportiert. Mehrmals ist er dem Tod nah, schafft es jedoch immer wieder, am Leben zu bleiben. Im KZ lernte er auch seine zukünftige Frau Rebekka kennen. Und nach 1945 entging er nochmals dem Tod, als er einen Zug verpasst hatte, der dann eine Brücke hinabstürzte. 1950 wanderte Familie Bau nach Israel aus, wo Joseph viel erreichte. In Tel Aviv widmet sich sogar ein Museum seinem Leben.

Zu Kriegsbeginn befand sich ein weiterer Josef in Polen, und zwar der sechste Lubawitscher Rebbe, Rabbi Josef Jizchak Schneerson, der sich in einem Kurort nahe Warschau aufhielt. Sofort reiste Rabbi Schneerson nach Warschau, um von dort nach Lettland gelangen zu können – angesichts deutscher Bomber ein gefährliches Unterfangen. In der polnischen Hauptstadt konnte er sich bei Chassidim verstecken. Danach begann die Geschichte seiner wundersamen Rettung. Anhänger des Rebben hatten in den USA eine Kampagne initiiert, die auch von prominenten Politikern getragen wurde. Einer davon war Benjamin V. Cohen, ein Vertrauter des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der sich an den Diplomaten Robert Pell wandte, der daraufhin seinen deutschen Kollegen Helmut Wohlthat kontaktierte, der sich dann an die Leitung der Abwehr, des militärischen Nachrichtendienstes der Deutschen, wandte.

Da diese hochrangigen Beamten in Deutschland auf gute Beziehungen zu Amerika setzten, entschieden sie, bei der Rettung von Rabbi Schneerson zu helfen. Dafür wurde ein Mitarbeiter der deutschen Abwehr, Major Ernst Bloch, der selbst einen jüdischen Vater hatte und von Hitler zum »Ehrenarier« erklärt wurde, nach Warschau entsandt, der allen Gefahren zum Trotz den Rebben nach Berlin brachte. Dort wurde er bei der jüdischen Gemeinde untergebracht und bekam ein litauisches Visum. Bloch begleitete den Rebben und seine Entourage dann zur lettischen Grenze. So kam Rabbi Schneerson am 17. Dezember nach Riga, wo er ein amerikanisches Visum erhielt und im März 1940 New York erreichen sollte.

Um unsere Zukunft zu verbessern, brauchen wir nicht einmal in die Synagoge zu gehen.

Wir sehen also am Beispiel dieser beiden Biografien, dass das Überleben in einem bestimmten Jahr oder im Rahmen eines Ereignisses ganz unterschiedlich ausfallen kann. Deshalb lohnt es sich wohl, die Worte unserer Weisen ernst zu nehmen und zu versuchen, Rosch Haschana dafür zu nutzen, ein gutes und schönes Jahr zu bekommen, und zwar eines, das vom Leben gekennzeichnet sein wird und nicht vom Überleben.

Wir wünschen uns ein Jahr ohne Stress, Ärger, Nöte, Krankheiten und Enttäuschungen. Unsere Weisen haben den ersten Tag dieses Jahres so gestaltet, dass wir das Potenzial der kommenden zwölf Monate voll ausschöpfen können. Nicht nur das Blasen des Schofars, sondern auch schöne Gebete und verschiedene Rituale sollen uns dabei helfen. Allein schon die Atmosphäre in der Synagoge an Rosch Haschana trägt zur passenden Stimmung bei.

Unser Schicksal ist nicht in Stein gemeißelt

Doch nicht alle schaffen es, Rosch Haschana zur Synagoge zu gehen. Was können diese Menschen tun, um sich ein gutes, neues Jahr zu verdienen? Das Judentum bietet natürlich auch ihnen eine Lösung. Unsere Weisen haben mehrmals betont, dass unser Schicksal zwar von G’tt vorprogrammiert, jedoch nicht in Stein gemeißelt ist. Wir können es durch unsere Worte und Taten verändern. Es gibt drei Dinge, die dazu die Macht haben: Teschuwa (Umkehr), Tefilla (Gebet) und Zedaka (Gerechtigkeit). Und für alle drei Vorhaben braucht man keine Synagoge zu besuchen. Unter Teschuwa wird die Umkehr zu G’tt verstanden. Sündigt die Person, so entfernt sie sich damit vom Schöpfer. Bereut sie die Sünde, so macht man Teschuwa und kommt zurück zu G’tt. Doch beim Nachdenken über die eigenen Taten muss nicht nur an G’tt, sondern auch an den Mitmenschen gedacht werden. Habe ich jemandem Unrecht getan? Die Fragen und Antworten darauf können unsere zwischenmenschlichen Beziehungen stark verbessern.

Die Tefilla, also das Gebet, kann auch viel bewirken. Es ist vor allem die individuelle Verbindung mit dem Schöpfer, weshalb es manchmal reicht, sich an die höhere Macht zu wenden und seine Sorgen, Nöte oder Wünsche in eigenen Worten zu artikulieren. Wichtig ist, zu wissen, dass man nicht allein ist und es etwas gibt, das Wunder bewirken kann.

Bei der Zedaka denken wir oft an Geldspenden. Doch manchmal braucht man kein Geld dafür. Oft benötigen andere Menschen einfach nur unsere Zeit, und zwar für Hilfe, für ein Gespräch oder für einen guten Ratschlag.

Wenn man sich auf diese drei Dinge konzentriert – die Beziehungen zu seinen Mitmenschen zu verbessern, sein Bewusstsein für den Schöpfer zu stärken und mehr Zeit für andere zu finden –, wird das kommende Jahr auf jeden Fall besser. Man kann über diese schicksalhaften Sachen jeden Tag nachdenken, nicht nur an Rosch Haschana. Doch dieser Tag ist dafür besonders passend: Denn wortwörtlich übersetzt bedeutet Rosch Haschana nicht »Neues Jahr«, sondern »Kopf des Jahres«. Und wenn der Anfang gut ist, dann wird auch der Rest entsprechend sein. Wir verschwenden in unserem Leben viel Zeit für Sachen, die unnötig sind. Einige Minuten oder Stunden an Rosch Haschana, die zum Reflektieren verwendet werden, können eine sehr gute Investition sein.

Der Autor ist Militärrabbiner und betreut die Jüdische Gemeinde in Halle.

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