In unserer Parascha Ki Tawo begegnen wir einem der ersten festgeschriebenen liturgischen Gebete aus der Tora. Es ist die Erklärung, die ein jüdischer Bauer abgibt, wenn er die ersten Früchte seiner Ernte, die Bikkurim, zum Tempel bringt: »Und du sollst zu dem Priester kommen, der in jenen Tagen sein wird, und zu ihm sprechen: ›Ich habe heute dem Ewigen, deinem Gott, kundgetan, dass ich in das Land gekommen bin, das der Ewige unseren Vätern geschworen hat, uns zu geben‹« (5. Buch Mose 26,3).
Das hier für »kundtun« verwendete hebräische Wort »higadeti« ist bemerkenswert und alles andere als eine alltägliche Vokabel für »sagen«. Es teilt seine Wurzel mit einem der bekanntesten Texte des Judentums: der Pessach-Haggada, der Erzählung vom Auszug aus Ägypten. Diese sprachliche Verwandtschaft ist kein Zufall, sondern ein Schlüssel zum Verständnis einer tieferen jüdischen Theologie von Dankbarkeit, Freiheit und Verantwortung. Welche tiefere Bedeutungsebene eröffnet uns also dieses spezifische Wort »higadeti«?
Privates Geständnis oder stilles Gebet
Eine aufschlussreiche Antwort bietet der Kommentator Owadia Sforno (1475–1550): Er legt dar, dass es sich hierbei nicht um ein privates Geständnis oder ein stilles Gebet handelt. Vielmehr ist es eine öffentliche Proklamation, eine formelle Anerkennung einer Tatsache vor Zeugen. Der Bauer, der seine Erstlingsfrüchte darbringt, stellt nicht nur fest, dass er nun im Land lebt. Er bezeugt feierlich und öffentlich, dass Gott sein Versprechen an seine Vorfahren eingelöst hat. Sein persönlicher Erfolg, die reiche Ernte, wird so in den großen Bogen der jüdischen Geschichte gestellt. Er legt Zeugnis darüber ab, dass sein individueller Wohlstand untrennbar mit dem kollektiven Schicksal und dem Bund seines Volkes verwoben ist.
Doch diese öffentliche Erklärung ist weit mehr als nur ein rhetorischer Akt. Die französischen Kommentatoren des 12. und 13. Jahrhunderts, Chizkuni (Hiskia ben Manoah) und Joseph Bekhor Shor, heben hervor, dass aus dieser Proklamation eine Verpflichtung folgt. Indem der Bauer die Güte Gottes und die Erfüllung des Eides anerkennt, bekennt er sich gleichzeitig zu der Verantwortung, die dieser Segen mit sich bringt.
Der Reichtum des Landes ist keine Selbstverständlichkeit und kein Freifahrtschein, sondern ein Geschenk, das eine ethische Lebensführung erfordert – eine Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit, Solidarität und dem Respekt vor dem Geber des Landes gründet. Die Darbringung der Bikkurim ist somit nicht nur ein Ausdruck der Dankbarkeit (hakarat hatov), sondern auch ein performatives Bekenntnis zu den Werten der Tora.
Nicht nur Worte, sondern auch Taten
Diese Verpflichtung manifestiert sich aber nicht nur in Worten, sondern – wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) aufzeigt – in der Tat selbst. Er liefert hierzu einen entscheidenden Einblick, indem er direkt auf das Wort »higadeti« eingeht. Er erklärt, dass die Wurzel des Wortes bedeutet, etwas »vor die Augen zu stellen«. Higadeti ist demnach eine Deklaration, bei der man etwas »nicht durch Worte, sondern durch Handlungen an den Tag legt«. Die Handlung selbst ist die Aussage. Der Bauer sagt nicht nur, dass er dankbar ist; er zeigt es, indem er die Früchte bringt. Die Tat des Darbringens ist die eigentliche Haggada, die Erzählung.
Dieser Gedanke wirft ein neues Licht auf den Pessach-Seder: Die symbolischen Handlungen wie das Essen von Mazza und Maror sind nicht nur schmückendes Beiwerk zur Erzählung. Sie sind die Erzählung. Die Handlung macht die Haggada erst wahrhaftig. Doch wie wird aus dieser äußeren Handlung eine innere Transformation? Hier hilft uns der zeitgenössische Kommentator Birkat Asher, Rabbi Asher Wassertheil, der diese Idee brillant zuspitzt. Er erklärt, dass die Deklaration der Erstlingsfrüchte den Darbringenden emotional und spirituell in die Lage versetzen soll, sich so zu fühlen, als wäre er selbst aus Ägypten ausgezogen und hätte das Land als Erster betreten.
Wenn der Bauer im weiteren Verlauf der Erklärung sagt: »Ein umherirrender Aramäer war mein Vater« (5. Buch Mose 26,5), dann spricht er nicht nur von einem fernen Vorfahren. In der Logik dieses Rituals, ähnlich der des Pessach-Seders, wird die Geschichte des Vorfahren zur eigenen. Das Wort »Avi« (mein Vater) wird hier zum Vehikel für eine tiefgreifende persönliche Identifikation, die die Kluft der Generationen überbrückt. In diesem rituellen Moment wird die kollektive Geschichte zu einer ganz persönlichen Erzählung. Die Befreiung aus Ägypten und die Gabe des Landes sind keine verstaubten historischen Fakten mehr, sondern eine lebendige, gegenwärtige Realität, die unmittelbar zur Dankbarkeit verpflichtet.
Liturgie, Geschichte und Ethik
Wir sehen also: Die Bikkurim-Zeremonie verbindet Liturgie, Geschichte und Ethik in einem einzigen rituellen Akt. Der Bauer bekennt – öffentlich, sichtbar, mit Taten – seine Dankbarkeit, erkennt seine Verantwortung und wird Teil einer kollektiven Erzählung, die er sich zu eigen macht.
Unsere Parascha lehrt uns somit eine tiefgründige Lektion über das Wesen der Freiheit. Freiheit ist nicht bloß die Abwesenheit von Unterdrückung. Wahre, erfüllte Freiheit ist stets zielgerichtet. Sie findet ihre Bestimmung im Aufbau einer gerechten Gesellschaft und im aktiven Ausdruck der Dankbarkeit.
Doch was bedeutet es heute, ohne Tempel und Bikkurim, »Dankbarkeit in Taten umzusetzen«? Es bedeutet, unsere Zeit und Ressourcen anderen zu widmen (Zedaka und Gemilut Chassadim). Es bedeutet, Verantwortung für unsere Umwelt zu übernehmen, das »Land«, das uns heute anvertraut ist. Und es bedeutet, im Kleinen wie im Großen bewusst Worte der Anerkennung und Wertschätzung zu sprechen und so unser Umfeld aktiv und positiv mitzugestalten. Die öffentliche Erklärung, das Bekenntnis zur Verantwortung und die persönliche Verinnerlichung bleiben die drei Säulen, auf denen eine authentische jüdische Dankbarkeit ruht.
Der Autor ist Masorti-Rabbinatsstudent am Abraham Joshua Heschel Seminar der Nathan Peter Levinson Stiftung.
inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Tawo sollen die Israeliten aus Dankbarkeit für die Ernte und die Befreiung aus der Sklaverei ein Zehntel der Erstlingsfrüchte opfern. Und sie sollen die Gebote des Ewigen auf großen Steinen ausstellen, damit alle sie sehen können. Danach schildert die Tora Fluchandrohungen gegen bestimmte Vergehen der Leviten. Dem folgt die Aussicht auf Segen, wenn die Mizwot befolgt werden.
5. Buch Mose 26,1 – 29,8