Nasso

»Du bist die Quelle«

Fühlen, was ist: Der Ewige ist der Ursprung allen Segens. Foto: Getty Images/iStockphoto

Eine der Mizwot im Wochenabschnitt Nasso ist das biblische Gebot für Kohanim (Priester), das jüdische Volk jeden Tag zu segnen. Außerhalb des Landes Israel praktizieren Kohanim diese Mizwa nur an den Feiertagen (Pessach, Schawuot, Sukkot, Rosch Haschana und Jom Kippur), aber in Israel wird Birkat HaKohanim, der Priestersegen, jeden Tag gesprochen. Man muss aber nicht nach Israel reisen, um dies zu sehen. Denn in sefardischen Gemeinden, die der Entscheidung des Schulchan Aruch folgen, segnen die Kohanim die Menschen jeden Tag.

Rav Jitzchak Arama (1420–1494) stellt in seinem Buch Akeidat Jitzchak mehrere grundlegende Fragen zum Gebot des priesterlichen Segens. Seine Antwort liefert ein völlig neues Verständnis dafür, worum es dabei genau geht. Er stellt fünf Fragen:

1. Warum brauchen wir die Kohanim, um uns zu segnen? Der Ewige ist doch die Quelle aller Segnungen! Warum sollten wir Kohanim als ein Medium für den Segen brauchen?

2. Die Gemara (Rosch Haschana 28b) lehrt, dass die Kohanim, denen im Wochenabschnitt Nasso aufgetragen wird, das Birkat HaKohanim zu rezitieren, keinen persönlichen Segen hinzufügen dürfen. Die Gemara zitiert den biblischen Vers: »Füge nichts hinzu zu dem, was ich dir befehle, und lenke nicht davon ab« (5. Buch Mose 4,2). Dieser Vers verbietet jedem Kohen, von dem spezifischen Text abzuweichen. Wenn der Allmächtige den Kohanim bereits die Lizenz gibt, die Nation zu segnen, warum sie dann einschränken? Warum sagen wir nicht »Wer mehr tut, ist zu loben«?

Minhag JISRAEL Einige Poskim, Gelehrte, die eine bindende Entscheidung bei der Auslegung der Halacha treffen können, diskutieren diese Angelegenheit tatsächlich. Nach dem Minhag Jisrael sagen die gesegneten Nicht-Kohanim zu den Kohanim, nachdem diese die Menschen gesegnet haben und vom Podium herabsteigen: »Jascher Kochacha« (Gut gemacht). Und die Kohanim antworten normalerweise: »Baruch Tiheje« (Du sollst gesegnet sein).

Spätere rabbinische Entscheider diskutieren darüber, ob sie das überhaupt sagen dürfen. Ist es nicht ein Verstoß, dem jüdischen Volk einen quasi nicht autorisierten persönlichen Segen hinzuzufügen?

3. Das Sefer Charedim hält fest, dass es nicht nur eine Mizwa für die Kohanim ist, das jüdische Volk zu segnen, sondern dass es auch eine Mizwa für das jüdische Volk gibt, von den Kohanim gesegnet zu werden. Auch dies erscheint seltsam. Ist es notwendig, jemandem zu befehlen, einen Segen zu empfangen?

4. Der Text der drei Priestersegen ist so, dass der Name G’ttes bei jedem Segen wiederholt wird. Warum ist dies notwendig? Es scheint überflüssig zu sein.

5. Und schließlich, was ist die Bedeutung der letzten Zeile des Birkat HaKohanim? »Und sie werden Meinen Namen auf die Kinder Israels legen, und Ich werde sie segnen.« Wer segnet hier Israel – der Kohen oder G’tt? Es ist unklar.

Rav Jitzchak Arama erklärt, dass jeder einzelne Segen mit den Worten »Baruch Ata Haschem« beginnt. Was bedeuten diese drei Wörter? Sowohl Rabbejnu Bachai (1255–1340) in seinem Torakommentar als auch Rav Jitzchak Arama sowie viele andere Kommentatoren schreiben, dass der Ausdruck »Baruch« von dem hebräischen Wort »Brejcha« stammt – was »Teich« oder »Wasserreservoir« bedeutet. »Baruch Ata Haschem« heißt demnach: »Herr der Welt, Du bist die Quelle allen Segens.«

BRACHA Wenn ich, bevor ich einen Apfel esse, sage: »Baruch Ata Haschem Eloheinu Melech HaOlam Borei Pri HaEtz« (Gepriesen seist Du, Ewiger, unser G’tt, König der Welt, der die Frucht des Baumes erschafft), dann erkläre ich damit, dass ich anerkenne, dass der Ewige, der Meister des Universums, die Quelle allen Segens ist und ich ohne Ihn diesen Apfel nicht hätte.

Haschem möchte, dass wir das tun, weil er möchte, dass wir wissen, dass jeder einzelne Apfel und jedes einzelne Stück Wurst und jedes einzelne Stück Brot, das wir essen, von Ihm kommt.

Es ist nicht mein Geld, es ist nicht mein Talent – alles kommt von G’tt! Das ist die Erklärung für »Baruch Ata Haschem«. Wenn wir das Geschenk anerkennen, das wir von Haschem erhalten haben, wird Er uns weiterhin Geschenke machen. Wenn uns jemand ein Geschenk macht und wir uns nicht bedanken, wenn wir keine Wertschätzung zeigen, hört Er möglicherweise auf, uns Geschenke zu machen. Wenn wir also auch weiterhin Äpfel, Wurst und Kuchen oder Brot haben möchten, müssen wir jedes Mal »Baruch Ata Haschem …« sagen.

Darum geht es bei Brachot und auch im Birkat HaKohanim. Es ist kein Segen der Kohanim. Sie geben keinen Segen. Den gibt nur der Allmächtige. Birkat HaKohanim ist vielmehr eine moralische Anweisung: Du sollst wissen, dass dieser Segen und alles andere von Haschem kommen.
Willst du irgendetwas auf dieser Welt? Wisse, dass es vom Meister der Welt kommt. Deshalb wiederholt und betont der Text den Namen von Haschem in jedem Satz. Mit diesem Verständnis wird sehr deutlich, warum die Kohanim keinen weiteren eigenen Segen hinzufügen dürfen. Es gibt keine andere Quelle für Brachot als Haschem.

Dies erklärt auch die Meinung des Sefer Charedim, dass es eine Mizwa für das jüdische Volk gibt, Birkat HaKohanim zu hören. Warum sollte es also notwendig sein, jemandem zu befehlen, hinzugehen und Segnungen zu empfangen?

Die Antwort ist: Es ist notwendig, weil die Menschen ungern Anweisungen hören. Die Kohanim stehen nicht auf dem Podium und verteilen Segen. Sie verteilen moralische Anweisungen. Sie sagen dem Publikum: »Hör zu, du bist vielleicht ein Millionär, du sitzt jetzt vielleicht an der Spitze der Welt – aber es kam nicht von dir! So wie du Millionär bist, und ein anderer ist ein Bettler, so könnte genauso gut auch er der Millionär und du der Bettler sein! Die Dinge sind so, wie sie sind, weil der Allmächtige es so wollte.«
Die Kohanim verteilen keine kostenlosen Geschenke. Sie verteilen keinen Segen. Sie lehren uns, dass wir die Quelle allen Segens in dieser Welt kennen müssen – es ist allein der Allmächtige und sonst niemand.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

inhalt
Der Wochenabschnitt Nasso setzt die Aufgabenverteilung beim Transport des Stiftzelts fort. Es folgen verschiedene Verordnungen zum Zelt und ein Abschnitt über Enthaltsamkeitsgelübde. Dann wird der priesterliche Segen übermittelt. Den Abschluss bildet eine Schilderung der Gaben der Stammesfürsten zur Einweihung des Stiftszelts.
4. Buch Mose 4,21 – 7,89

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025

Chaje Sara

Bewusster leben

Sara hat gezeigt, dass jeder Moment zählt. Sogar ihr Schlaf diente einem höheren Ziel

von Samuel Kantorovych  13.11.2025

Spurensuche

Von Moses zu Moses zu Reuven

Vor 75 Jahren starb Rabbiner Reuven Agushewitz. Er verfasste religionsphilosophische Abhandlungen mit einer Intensität, die an Maimonides und Moses Mendelssohn erinnert. Wer war dieser Mann?

von Richard Blättel  13.11.2025

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025