Interview

»Diese Tora ist ein Zeichen, dass wir überlebt haben«

Blick in eine Torarolle Foto: copyright (c) Flash90 2013

Herr Farnadi-Jerusalmi, am Sonntag schreiben Sie zum Abschluss der Jüdischen Kulturtage in Berlin die letzten Buchstaben der neuen Torarolle für die Synagoge in der Brunnenstraße. Wie lange dauert es, so eine ganze Rolle fertigzustellen?
Oh das ist eine große Aufgabe. Die Tora hat 304.805 Buchstaben, und jeder davon muss korrekt geschrieben sein, sonst ist sie nicht koscher und darf beispielsweise nicht in einer Synagoge vorgelesen werden. Ich habe in meinem Beruf als Sofer, also Schreiber, erst ein einziges Mal eine gesamte Torarolle geschrieben, das war während der Corona-Zeit. Da habe ich etwas länger als ein Jahr gebraucht und fast jeden Tag daran gearbeitet.

Was sind sonst Ihre Aufgaben als Sofer?
Am häufigsten repariere ich alte Torarollen. Wie gesagt, sobald nur ein Buchstabe falsch geschrieben, zerrissen, oder nicht mehr lesbar ist, muss die Schrift ausgebessert werden. Manchmal ist es den Betern einer Synagoge selbst aufgefallen, und dann werde ich gerufen. Manchmal soll ich aber auch einfach die ganze Rolle kontrollieren, präventiv. Dazu benutze ich heute auch eine digitale Technik. Ich mache Fotos jeder Spalte und scanne sie ein. Ein Programm zeigt mir dann an, ob Buchstaben fehlen oder falsch geschrieben sind. Daneben schreibe ich natürlich viele kürzere Texte, wie zum Beispiel Megillot, Mesusot und Tefillin.

Warum haben Sie sich für diesen außergewöhnlichen Beruf entschieden?
Ich habe immer gern gezeichnet, und ich liebe Kalligraphie. Mich faszinieren aber auch Sprachen, Etymologie, Grammatik und Linguistik. Der Beruf des Sofers verbindet beides. Außerdem ist es eine sehr spirituelle, erhebende Aufgabe. Im Hebräischen hat jeder Buchstabe einen Zahlenwert und eine religiöse Bedeutung. Es ist übrigens die 613. Mizwa, also die letzte in der Reihe der 613 Mizwot, einmal im Leben eine Tora zu schreiben.

Und wie wird man ein Sofer?
Es gibt Kurse, die drei oder mehr Monate gehen, aber danach muss man noch sehr viel üben. Am Ende macht man eine Prüfung. Es geht nicht nur darum, die Buchstaben perfekt mit der Tinte auf das raue Pergament zu bringen, sondern man muss sehr viele Regeln kennen. Man kann zum Beispiel, wenn man sich verschrieben hat, nicht einfach einen Teil des Buchstabens radieren und neu schreiben. Dann wäre die Rolle nicht mehr koscher, auch wenn das im Nachhinein niemandem auffiele. Ein Sofer muss also jemand sein, dem man zu 100 Prozent vertrauen kann.

Was ist das Schönste an Ihrem Beruf?
Das Schreiben ist fast wie eine Meditation, ich sitze ganz ruhig da und konzentriere mich auf jeden einzelnen Buchstaben. Das ist sehr schön.

... es klingt aber auch ein bisschen einsam.
Nein, gar nicht. Ich spreche viel mit meinen Kunden, reise herum. Ich gebe Workshops und kann so unsere Tradition an Kinder und Erwachsene weitergeben. Auch eine Torarolle fertigzustellen ist am Ende oft eine Teamarbeit. Nehmen wir die Torarolle vom Sonntag: Sie wurde von anderen geschrieben, und nun von mir fertiggestellt. Die einzelnen Blätter haben die Frauen und Mädchen aus der KAJ-Gemeinde in der Brunnenstraße selbst mit Sehnen zusammengenäht und um die Hölzer, die die Rolle am Ende halten, herum befestigt.

Was ist noch besonders an dieser Torarolle?
Auf dem Samtmantel der Tora sind die Namen verschiedener Orte in Israel gestickt, in denen vor einem Jahr die schrecklichen Massaker stattfanden. Nun erinnern wir an die Verstorbenen mit dieser Rolle. Es berührt mich sehr, dass wir die Rolle an dem Ort fertig schreiben werden, an dem früher jüdische Bücher verbrannt wurden. Es ist ein Zeichen, dass wir und unsere Tradition überlebt haben.

Das Gespräch führte Mascha Malburg.

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025