Mouhanad Khorchide

»Die Wurzeln des Islams liegen im Judentum«

»Mose ist die im Koran am häufigsten erwähnte Figur«: Mouhanad Khorchides (53) Großeltern stammen aus Palästina, er selbst wurde in Beirut geboren, wuchs in Saudi-Arabien auf und kam mit 18 Jahren nach Wien. Heute ist er Professor für Islamische Religionspädagogik in Münster. Foto: ZIT/Peter Grewer

Herr Khorchide, seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dessen Folgen scheinen die Fronten zwischen Juden und Muslimen verhärteter denn je. Und genau jetzt schreiben Sie ein Buch mit dem Titel »Ohne Judentum kein Islam. Die verleugnete Quelle«. Was meinen Sie genau damit?
Gerade jetzt, wo die Fronten so stark verhärtet sind und der 7. Oktober zu einem massiven Anstieg des Antisemitismus unter Muslimen geführt hat, benötigen wir dringend lösungsorientierte Ansätze. In meinem neuen Buch zeige ich zentrale projüdische Erzählungen des Korans auf, die einen Beitrag dazu leisten sollen, dass das Schützen und Fördern jüdischen Lebens zum Selbstverständnis des Muslimseins und islamischer Praxis wird. Liest man den Koran in chronologischer Reihenfolge, stellt man schnell fest: Mohammed berief sich intensiv auf jüdische Erzählungen – ja, auf Mose selbst – um seine eigene prophetische Mission zu legitimieren. Es wundert daher nicht, dass Mose die im Koran am häufigsten erwähnte Figur ist. Ohne diese bewusste Anknüpfung an das Judentum wäre es Mohammed kaum möglich gewesen, sich in die Reihe der monotheistischen Propheten zu stellen. Im Judentum liegen somit die Wurzeln des Islam. Man darf nicht vergessen, dass Muslime über viele Jahre hinweg in Richtung Jerusalem beteten und sich unter anderem auch jüdische Speisevorschriften aneigneten.

Sie schreiben, dass der Islam, so wie er heute von vielen Musliminnen und Muslimen verstanden und gelebt wird, ein antijüdisches Problem hat. Warum?
Der empirische Befund ist sowohl für Deutschland als auch für viele islamisch geprägte Länder eindeutig: Antisemitismus ist unter Muslimen stärker verbreitet als unter anderen Gruppen – was natürlich nicht bedeutet, dass jeder Muslim antisemitisch ist. Häufig wird eine antisemitische Haltung religiös begründet, was mich dazu veranlasst, von einem antijüdischen Problem zu sprechen. Der Koran kann jedoch auch anders gelesen werden, ja sogar projüdisch. Es stellt sich die Frage, ob Muslime bereit sind, den Koran historisch-kritisch zu lesen, anstatt ihn wortwörtlich und kontextlos zu interpretieren, ohne die jeweilige historische Situation zu berücksichtigen.

Sie stellen Studien vor, die zeigen, dass Musliminnen und Muslime mit stark religiöser Praxis oder regelmäßiger Moscheebindung eine erhöhte Anfälligkeit für antisemitische Haltungen haben. Wie erklären Sie sich das? Und was kann gegen religiös motivierten Antisemitismus getan werden?
Der Islam, wie er heute in vielen muslimischen Kreisen vermittelt wird, erfährt offensichtlich eine antijüdische Auslegung. In Moscheepredigten wird oft nicht klar zwischen der Politik der israelischen Regierung und dem Judentum unterschieden. Zudem ist der sogenannte religiös begründete Exklusivismus in der islamischen Theologie weitverbreitet: Es wird vermittelt, der Islam sei die einzig wahre Religion, während Christentum und Judentum als überholt oder falsch gelten. Das verstärkt Ressentiments gegenüber Andersgläubigen. Dem gilt es entschieden entgegenzuwirken. Der religiöse Exklusivismus muss innerislamisch dekonstruiert und überwunden werden. Doch das allein genügt nicht, wir brauchen projüdische islamische Gegennarrative. Und genau das ist das Ziel meines Buches. Zudem ist das Problem nicht nur religiöser Natur: Solange der Nahostkonflikt ungelöst bleibt, wird er weiterhin ein fruchtbarer Boden für islamisch legitimierten Antisemitismus sein.

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Auch in Deutschland gibt es Judenhass, der sich leider in allen Teilen der Gesellschaft findet. Was kann man aus Ihrer Sicht gegen Antisemitismus speziell unter Muslimen tun?
Wir brauchen innerislamisch begründete, projüdische Argumente, damit nicht der Eindruck entsteht, Muslime würden einer »westlichen Agenda« folgen. Der Kampf gegen Antisemitismus muss als zentrales islamisches Anliegen verstanden werden. Zudem müssen Räume der Begegnung zwischen Muslimen und Menschen jüdischen Glaubens geschaffen werden, bereits in Schulen und der Jugendarbeit. Aufklärungsarbeit in den sozialen Medien ist ebenso notwendig wie eine andere Herangehensweise an den Nahostkonflikt: Es sollte nicht darum gehen, wem das Land gehört oder wer historisch recht hat, sondern darum, welchen Beitrag wir heute für mehr Menschlichkeit und friedliches Miteinander leisten können.

Sie haben palästinensische Wurzeln: Denken Sie, der Blick auf die gemeinsame Geschichte könnte auch helfen, den Nahostkonflikt zu entschärfen?
Definitiv. Ich plädiere dafür, dass wir Palästinenser unsere Identität neu definieren – nicht in Feindschaft zu Israel und auch nicht in Ablehnung des Judentums, sondern in geschwisterlicher Verbundenheit mit jüdischen Menschen und in der Anerkennung Israels. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch für menschenwürdige Lebensbedingungen des palästinensischen Volkes einsetzen – mit viel Kompromissbereitschaft. Haltungen wie die der Hamas, die auf die Vernichtung Israels abzielen, sind Teil des Problems und sollten von uns Palästinensern klar und ohne Relativierung zurückgewiesen werden. Die vergangenen Jahre haben gezeigt: Anti-israelische Haltungen haben uns Palästinensern nicht geholfen, sie haben uns massiv geschadet. Es ist an der Zeit, Frieden auch mit Israel zu schließen, die neuen Realitäten anzuerkennen und nach vorn zu blicken, mit dem Ziel, einen palästinensischen Staat zu gründen, in dem Menschen unterschiedlicher Religionen und Ethnien friedlich miteinander leben können. Und in dem auch Israelis als Geschwister im Menschsein und im Glauben an den gemeinsamen Gott Moses und Mohammeds sicher und willkommen sind.

Mit dem islamischen Theologen sprach Judith Kubitscheck.

Mouhanad Khorchide: »Ohne Judentum kein Islam. Die verleugnete Quelle«. Herder, Freiburg 2025, 221 S., 22 €

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