Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Tucker, wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Jeschiwa zu gründen?
Ich wurde nach der Scheidung meiner Eltern in zwei Haushalten groß. In dem einen gingen wir in eine orthodoxe Synagoge, im anderen in eine konservative — mein Vater ist ein konservativer Rabbiner. Beide Haushalte waren im religiösen Leben gleich engagiert, was mir früh zeigte, dass Tora und Mizwot Menschen über Denominationsgrenzen hinweg verbinden können. Meine schulische Laufbahn spiegelte diese Mischung wider: Ich besuchte zunächst eine konservative Tagesschule und später eine orthodoxe Highschool in Manhattan. Ich habe nie angenommen, dass religiöse Praxis an eine bestimmte Strömung gebunden sein muss — und genau das sollte der Kern der Jeschiwa sein, die wir 2006 gründeten: Unsere Zielgruppe ist ganz »Klal Israel«. Wir glauben daran, dass die Tora für alle da ist.

Sie haben in Harvard am Jüdischen Theologischen Seminar studiert.
Während meines Studiums frustrierte mich zunehmend die Vorstellung, dass eine tiefgehende halachische Verpflichtung zwangsläufig Geschlechterausschluss bedeutete. In allen anderen Bereichen meines Lebens waren Männer und Frauen gleichermaßen beteiligt, und ich war überzeugt, dass auch mein jüdisches Leben das widerspiegeln sollte. Ich wollte nicht nur begründen, wie egalitäre Praxis halachisch tragfähig sein kann, sondern auch zeigen, wie sie als natürlicher Ausdruck der Tradition vollständig integriert werden kann. Diese Vision prägte unsere Jeschiwa von Anfang an: eine vollständige Synthese von Tora, Mizwot und Halacha mit Geschlechtergerechtigkeit – wobei jedes Element das andere stärkt.

Wie lässt sich moderne Gendergerechtigkeit mit den uralten Gesetzen der Tora vereinen?
Ich will Egalität nicht als Zugeständnis an die Moderne verstehen, sondern als höheren Standard der Verpflichtung – als die Weise, wie die Tora heute gelebt werden sollte. Es geht um die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Teilnahme und Leitung jüdischer Lehren und Praktiken. Wir betrachten Egalitarismus als eine weitere Krönung der am Berg Sinai dargelegten Vision einer Nation, in der alle Erwachsenen – nicht nur Priester – religiöses Engagement und Verantwortung übernehmen.

Ist diese Idee im amerikanisch-jüdischen Mainstream anschlussfähig?
Wenn Hadar in 50 Jahren immer noch die einzige Jeschiwa mit dieser Vision ist, dann haben wir – unabhängig vom eigenen Erfolg – versagt. Für mich ist das wahre Maß für Erfolg die Selbstüberschreitung: Wie sehr gelingt es uns, die Welt um uns herum so zu verändern, dass unsere Werte auch außerhalb unserer Mauern Wurzeln schlagen? Man kann eine Utopie schaffen – einen idealen Raum, in dem alles so ist, wie man es sich vorstellt. Aber wenn sich das nicht auf das Alltagsleben der Menschen überträgt, hat man keine dauerhafte Vision etabliert. Entscheidend ist, dass Menschen ihre Kinder und Enkel in dieser Form des Judentums großziehen können – in dem Wissen, dass es eine Synagoge gibt, in der sie diese Werte leben können. Und das darf nicht nur in wenigen Enklaven möglich sein, sondern in jedem wichtigen Zentrum jüdischen Lebens.

Hadar ist mittlerweile auch in Israel präsent. Wie kam es dazu?
Die Verbindung entstand organisch. Bereits im zweiten Sommer klopften Israelis bei uns an, um mitzulernen – obwohl wir dort nicht aktiv warben und es nicht einmal ein Bewerbungsformular auf Hebräisch gab. Einige waren ehemalige Studienkollegen aus meiner Jeschiwa-Zeit in Israel, die sagten: »Das, was ihr da macht, gibt es hier nicht – wir wollen das erleben.«

Was hat sie angezogen?
Teilweise die Möglichkeit, aus der israelischen religiösen »Blase« auszubrechen. Das Judentum in Israel ist zwar sehr kreativ, aber in bestimmten Annahmen auch tief konservativ – insbesondere in Bezug auf das, was als normativ oder orthodox gilt. In Nordamerika bietet das Spektrum der Konfessionen mehr Freiheit – der Besuch einer Synagoge sagt viel weniger über die gesamte jüdische Identität einer Person aus. Das war für viele anziehend. Kurz danach verbrachte Rabbinerin Avital Hochstein, heute Präsidentin von Hadar Israel, zwei Jahre mit uns, als wir unseren Ganztags-Beit-Midrasch gründeten. Sie prägte diesen entscheidend mit. Als sie nach Israel zurückkehrte, lebten dort bereits 15 bis 20 unserer Alumni – und die natürliche Frage war: Wie führen wir diese Arbeit in Israel weiter?

Denken Sie, dass ein ähnlicher Austausch auch mit Europa gelänge?
Früher dachte ich, das amerikanische und das europäische Judentum seien Welten voneinander entfernt. In der Vergangenheit war das jüdische Leben in den USA geprägt von einem reichen Spektrum an Konfessionen – verschiedene Richtungen innerhalb der Orthodoxie, diverse konservative Gemeinden, Reformgemeinden mit unterschiedlich starkem Hebräischanteil im Gottesdienst. Europa dagegen erschien mir binärer: orthodox oder reformiert. Außerdem gibt es in Europa eine beachtliche Zahl nicht-praktizierender Menschen mit orthodox-normativer Prägung – etwas, das in den USA seit den 80er-Jahren kaum noch existiert. In den letzten Jahrzehnten haben sich aber auch in Amerika die konfessionellen Linien abgeschwächt. Heute gibt es im Grunde zwei große Gruppen: die orthodoxen Gemeinden und ein einheitlicheres nicht-orthodoxes Spektrum.

Auch der Sicherheitsaspekt scheint mir unterschiedlich und durchaus prägend.
Das stimmt. Mir ist damals sehr aufgefallen, wie streng der Zugang zu europäischen Synagogen kontrolliert wurde – Ausweiskontrolle, Waffenscans und so weiter –, das war für amerikanische Synagogengänger völlig fremd. Unsere Gottes- und Gemeindehäuser waren früher vollkommen offen, aber gerade in den letzten Jahren, besonders nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, hat sich das geändert. Auch wenn ich das traurig finde, kann es eine gemeinsame Erfahrungsbasis zwischen nordamerikanischen und europäischen Juden schaffen.

Bisher gibt es in Europa keine Jeschiwa, die Halacha mit Geschlechtergleichheit verbindet.
Ich würde mich sehr freuen, mehr Partnerschaften und sinnvolle Verbindungen in Europa aufzubauen – aber dafür müssen wir reale sprachliche und strukturelle Hürden überwinden.

Was ist Ihre persönliche Verbindung zum europäischen Judentum?
Meine Familie stammt aus Osteuropa, aber es gibt auch einige Dinge, die mich auch mit der deutsch-jüdischen Tradition verbinden. Wenn ich die Tora lese und auf das seltene »Yerach ben yomo«-Trop komme – das nur einmal in der gesamten Tora vorkommt –, singe ich es immer so, wie ich es von einem Vorleser in Amsterdam gelernt habe, der es von einem alten Chasan aus Köln übernommen hatte.

Das Interview führte Sophie Goldblum. Sie war 2019 selbst Studentin der Jeschiwa.

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