Tu beAw

Die Liebe neu entdecken

Der jüdische Valentinstag gilt als Tag der Partnersuche. Doch auch langjährige Paare sollten ihn feiern

von Rabbiner Boris Ronis  14.08.2019 16:40 Uhr

Die Vorstellungen gehen oft weit auseinander – zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem Menschen, den wir tatsächlich vor uns haben. Foto: Getty Images / istock

Der jüdische Valentinstag gilt als Tag der Partnersuche. Doch auch langjährige Paare sollten ihn feiern

von Rabbiner Boris Ronis  14.08.2019 16:40 Uhr

Kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren, und Liebe wagt, was Liebe irgend kann.» Dieses bekannte Zitat stammt aus der Tragödie Romeo und Julia, dem berühmtesten Liebesdrama schlechthin, aus der Feder des Schriftstellers William Shakespeare (1564–1616).

Wie wir wissen, geht es in dem Stück um Liebe und den daraus resultierenden Schmerz, der zu einem tragischen Ende führt, denn die Liebenden gehören zwei verfeindeten Familien an. Und so ist ihre Liaison eine verbotene Beziehung, die in eine Tragödie mündet.

Solange es Menschen gibt, ist die romantische Liebe ein Motiv, das sich durch unser ganzes Leben zieht. Unzählige Ratgeber und Zeitschriften wollen uns in Liebesdingen beraten – und alle geben vor, zu wissen, was gut für uns ist, wie man die Liebe findet und anschließend den Alltag gemeinsam meistert.

Eines scheint sicher: Die Suche nach dem «Baschert» oder der «Bascherten» – einem uns vom Himmel zugewiesenen Menschen fürs Leben – ist die Mühe wert. Jedenfalls meistens. Denn wer die richtige Person fürs Leben findet und im besten Fall auch eine Familie gründet, darf zumindest hoffen, bis an sein Lebensende glücklich zu sein.

Adam Der Legende nach war Adam der erste Mensch auf Erden. Doch Adam war allein, und so sagte der Ewige zu ihm: «Und Gott sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, Ich will ihm eine Hilfe machen, die sich ihm gegenüber eignet» (1. Buch Mose 2,18).

Die Suche nach dem «Baschert» ist die Mühe wert. Jedenfalls meistens.

Gott entnahm dem zuvor betäubten Adam daraufhin eine Rippe und formte dessen Frau daraus. Danach war Adam nicht mehr allein, denn Chawa war jetzt an seiner Seite. Doch Gott, der Ewige, hatte nicht nur einen Teil Adams genommen und daraus Chawa geformt, sondern auch einen Teil seiner Seele – und sie Chawa gegeben.

Mann und Frau bilden zusammen einen Körper und eine Seele. Doch solange sich Mann und Frau auf Erden noch suchen, sind ihre Körper und Seelen nicht ganz, sondern nur Teile – auf der Suche nach dem passenden Gegenstück zur Einheit.

Doch wo darf man suchen, und wie findet man sich? Viele Menschen leben ihr Leben, ohne ihren «Baschert» gefunden zu haben. Selbst in Zeiten, in denen wir viel vernetzter sind als in der Vergangenheit, mit Telefon, Internet und Fernsehen, scheint es nicht leicht zu sein, einen Partner oder eine Partnerin fürs Leben zu finden.

Schadchen Heute wenden sich manche Menschen an einen Rabbiner um Hilfe. Früher hatte der Schadchen, der Heiratsvermittler, diese Aufgabe: passende Paare zu finden und die Partner zusammenzuführen. Auch heute gibt es noch den Beruf des Schadchens, der aber mittlerweile um einiges komplizierter geworden ist.

Menschen zusammenzubringen, die ein ganzes Leben lang gemeinsam glücklich sind, ist eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt – auch für einen Rabbiner, und das gerade in der heutigen Zeit. Denn wir alle scheinen wählerischer geworden zu sein als früher.

Vielleicht ist es wirklich das perfekte Gegenstück unserer Seele, das wir suchen. Vielleicht aber ist es auch nur Hollywood, das uns die perfekte Liebe vorgaukelt, und wir schauen uns die entsprechenden Filme so lange an, bis wir an nichts anderes mehr denken können als an die perfekte Liebe – und uns nichts anderes mehr vorstellen können.

Neugier Wie dem auch sei: Man glaubt an das perfekte Gegenüber, und nur ein solches Gegenüber erscheint begehrenswert. Viele Menschen sind in der heutigen Zeit nicht mehr bereit, sich einem Menschen zu nähern und ihn mit Geduld und Neugier zu erschließen.

Doch vielleicht ist gerade das der Weg zu einer wahren Beziehung: sich auf etwas einzulassen, das nicht perfekt ist. Menschen haben unterschiedliche Marotten und Vorlieben, die es zu begreifen gilt. Das zu erleben, bedeutet auch, die Geduld aufzubringen, einen Menschen in seiner Gänze und Widersprüchlichkeit zu erfahren.

Bei meinen Schidduch-Versuchen als Rabbiner stelle ich oft fest: Viele Menschen sind dazu gar nicht bereit. Die Vorstellungen gehen meist sehr weit auseinander – zwischen dem, was einige sich wünschen, und dem Menschen, den sie tatsächlich vor sich haben. Das sprichwörtliche Bild von der Suche nach der Nadel im Heuhaufen ist hier sehr passend. Zumal die Erwartung meist nicht der Realität entspricht.

Tempel Bemerkenswert ist daher der Blick in die alten Zeiten, als der Tempel in Jerusalem noch stand. Wie löste man dort solche Probleme? Kannte man derartige Herausforderungen? Ja, man kannte sie. Und bereits damals gab es Abhilfe – und zwar den 15. Aw, den Feiertag Tu beAw.

Zur Zeit des Tempels in Jerusalem markierte der 15. Aw den Tag der Weinlese.

Der Monat Aw ist ein extrem trauriger Monat in unserer Tradition. Seine ersten Tage fallen in die dreiwöchige Trauerperio­de vom 17. Tamus bis zum 9 Aw. Diese Zeit wird als schwer betrachtet, da laut der jüdischen Tradition am 9. Aw sowohl der Erste als auch der Zweite Tempel in Jerusalem zerstört wurde. Wir trauern in dieser Zeit und fasten zu Beginn der Trauerzeit, am 17. Tamus, und am 9. Aw.

Doch nicht einmal eine Woche nach Ende der Trauerperiode feiern wir den 15. Aw als absoluten Freudentag. Man tanzt und vergnügt sich. An diesem Tag ist das Tanzen von jungen Frauen, die so die Aufmerksamkeit eines Jünglings und zukünftigen Ehemanns auf sich ziehen möchten, geradezu ein Gebot.

gewänder Es heißt, Israel habe keine heitereren Festtage als den 15. Aw. Ursprünglich markierte der Tag den Beginn der Weinlese. Im liturgischen Kalender wurde der fröhliche Feiertag «Chag haKeramim» (Fest der Weinberge) genannt und ausgelassen gefeiert. Die Töchter Jerusalems pflegten an diesem Tag laut Talmud in geborgten weißen Gewändern auszugehen, um nicht die zu beschämen, die keine hatten (Taanit 30b–31a).

So borgte sich die Königstochter ihr Kleid von der Tochter des Hohepriesters; die Tochter des Hohepriesters borgte sich ihr Kleid von der des stellvertretenden Hohepriesters; die Tochter des stellvertretenden Hohepriesters borgte sich ihr Kleid von der Tochter eines Soldaten; und die Tochter eines Soldaten borgte sich die Kleider eines Mädchens von einem einfachen Mann und so weiter.

So wurde niemand beschämt, denn alle trugen das Gleiche. Die Mädchen Jerusalems tanzten in den Weingärten, indem sie dabei sangen: «Jüngling, erhebe deine Augen und schaue, wen du dir wählen wirst. Richte deine Augen nicht auf Schönheit, schau auf die Familie! Charme ist Lüge und Schönheit Nichtigkeit, eine Frau, die gottesfürchtig ist, sie soll gelobt werden» (Mischlej 31,30).

Ehe Und was passierte, wenn man schon eine Ewigkeit verheiratet war und merkte, dass man doch nicht zueinander passte? Auch hierzu haben die Rabbiner einen passenden Midrasch: Man sagt, es war zu Zeiten des alten Tempels, als ein Mann und eine Frau, beide aus wohlhabendem Hause, bemerkten, wie ihre Liebe zueinander erloschen zu sein schien. Seit nunmehr zehn Jahren waren sie verheiratet, wirtschaftlich ging es ihnen nicht schlecht – der Ehemann hatte sich ein lukratives Geschäft aufgebaut.

Kinderlosigkeit Nur leider fehlte zu ihrem Glück noch ein Kind, dessen Lachen das große Haus mit Leben erfüllt hätte. Das Paar beschloss, sich zu trennen. So kam es, dass sie ihren Rabbiner, der sie auch getraut hatte, zu sich riefen. Sie schilderten ihm ihre Situation und dass sie unglücklich waren wegen ihrer Kinderlosigkeit.

Geduldig hörte sich der erfahrene und weise Rabbiner ihre Geschichte an. Als sie mit dem Erzählen fertig waren, schlug er ihnen Folgendes vor: Sie mögen doch eine große Feier veranstalten, genauso eine wie zu ihrer Hochzeit – mit Familien und Freunden, mit Musik, Tanz und Spaß. Danach, so der Rabbiner, könne der Mann der Frau den Scheidebrief ausstellen, und beide würden in Zukunft getrennte Wege gehen.

Gesagt, getan: Das Paar lud alle zur großen Feier ein, so wie es der Rabbi gefordert hatte. Sie tranken, aßen, lachten und tanzten. Sie freuten sich, alle ihre Freunde wiederzusehen, auch wenn der Tag danach eher traurig sein würde, weil sie kein Paar mehr wären.

Oft suchen wir Utopisches in unserem Leben, trauen uns aber nicht, Wagnisse einzugehen.

Um Mitternacht, als schon alle etwas angeheitert waren, setzten sich die beiden Partner noch einmal zusammen. Sie plauderten, und in einem nostalgischen Anflug sagte der Ehemann zu seiner Noch-Ehefrau, sie möge sich doch etwas aussuchen aus dem gemeinsam Haus und es mitnehmen, wenn sie ihn verließe und in das Haus ihres Vaters zurückkehre.

Sofa Das war nämlich der Brauch in damaligen Zeiten: Bei einer Scheidung kehrte die Frau in das Haus ihres Vaters, ihrer Familie zurück. Die Feier neigte sich dem Ende zu, und der Ehemann schlief beschwipst auf dem Sofa ein. Seine Frau sah das und befahl mehreren Dienern, das Sofa mit ihrem Ehemann darauf in das Haus ihres Vaters zu tragen.

Am nächsten Morgen wachte der Mann auf und wunderte sich, wie er in das Haus seines Schiegervaters gelangt sei, und dazu noch auf seinem Sofa. Er schaute sich verwundert um, als er seine Frau erblickte.

Sie erklärte ihm daraufhin, dass es sein Wunsch gewesen war, sich etwas aus ihrem gemeinsamen Zuhause auszusuchen und es mit ins Haus ihres Vaters zu bringen. Und sie sagte ihm, dass sie sich eigentlich nur ihn wünschte – und nichts anderes. Da begriff der Ehemann, wie lieb und teuer seine Frau ihm geworden war – und dass man eine solche Liebe nicht aufgeben darf.

Segen Das Paar entschloss sich, erneut den Rabbiner aufzusuchen. Der sah die beiden an und ließ sich ihre Entscheidung erklären. Anschließend segnete er sie. Der Segen wurde im Himmel erhört, und kurze Zeit später wurden die beiden Eltern. Ihr Herzenswunsch hatte sich erfüllt.

Oft suchen wir Utopisches in unserem Leben, trauen uns aber nicht, Wagnisse einzugehen, um Wunder erleben zu dürfen. Wir machen uns Hoffnungen, ohne uns der Realität bewusst zu sein. Und manchmal verzweifeln wir, obwohl das Leben gut zu uns ist. In all diesen Fällen sind wir geblendet und verführt vom Nicht-Realen. Und das kann uns dazu bringen, dass wir die Liebe in unserem Leben nicht mehr spüren – obwohl es sie immer noch gibt.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

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