Israel, heiliges Volk, steht auf zum Dienst des Schöpfers»: Mit diesen Worten pflegte Rabbiner Mosche Zvi Neria (1913–1995), einer der großen Rabbiner des religiösen Zionismus, seine Schüler in der israelischen Jeschiwa Kfar HaRo’eh zu wecken. Seine Stimme war sanft, und er ging von Zimmer zu Zimmer, zwischen den Betten der schlafenden Jugendlichen, und rief sie mit liebevollem Nachdruck zum Gebet.
Wir stehen nun vor Rosch Haschana, und auch für uns sollte dieser Ruf – mit einer kleinen textlichen Änderung – ertönen: «Israel, heiliges Volk, steht auf zur Umkehr zum Schöpfer!» Wir müssen uns selbst zur Teschuwa, zur Rückkehr, ermahnen – besonders in diesen Tagen der Ehrfurcht.
Und wer wird uns wecken? Nicht jeder hier im Land Aschkenas hat einen Rabbiner, der ihn mit Barmherzigkeit und Entschiedenheit zur Umkehr ruft – und wenn doch, liegt diese Aufgabe in erster Linie bei uns selbst.
Wir sollen uns fragen: Wer sind wir und was wollen wir?
Was bedeutet Teschuwa – Umkehr? Nicht unbedingt das, was wir automatisch denken. Es ist nicht zwangsläufig die Verpflichtung zu einer strikteren Einhaltung der Gebote oder zu einer spirituellen Verstärkung. Die Grundlage der Teschuwa ist tiefer und umfassender. Wir sollen zur Quelle unserer Seele zurückkehren, uns fragen: Wer sind wir? Was wollen wir? Was ist unser tiefster Wunsch? Wo sind wir vom Weg abgekommen? Was können wir anders und besser machen?
Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt – in den letzten Tagen des Monats Elul und während der Tage der Ehrfurcht.
Diese Gelegenheit ist universell. Es spielt keine Rolle, ob Sie eine Kippa tragen oder nicht, ob Sie koscher leben oder nicht. Das ist nicht der Maßstab. Entscheidend ist vielmehr: Gibt es in Ihnen «Hirhure Teschuwa», Gedanken der Umkehr? Bewegt sich die innere Kompassnadel etwas? Wacht etwas in Ihnen auf? Sehnen Sie sich nach einer neuen Richtung?
Aber wie macht man Teschuwa? Genau dafür gibt es unsere Parascha Nizawim, die die einfachsten Geheimnisse über den Weg der Seele und die Teschuwa birgt.
Schritt für Schritt nimmt uns die Parascha an die Hand und zeigt uns den Weg. Und so beginnt sie: «Ihr steht heute alle vor dem Herrn» (5. Buch Mose 29,9). Das «ihr» bedeutet, dass wir nicht allein sind. Wenn wir den Weg der Umkehr gehen wollen, sollten wir wissen, dass die Menschen um uns diesen Weg genauso brauchen. Manche denken still darüber nach, manche leiden, manche gehen zum Psychologen, manche versuchen es mit Gebet. Allen gemeinsam ist der Wunsch, das Leben in eine bessere Richtung zu lenken. Allein die Erkenntnis, dass wir nicht allein sind, verleiht uns Kraft.
Die Parascha fährt fort mit Hinweisen für den Weg der Teschuwa: «Das Verborgene ist dem Ewigen, aber das Offenbare ist unser» (29,28). Wenn Sie beginnen, Ihren Weg zu verbessern, beschäftigen Sie sich nicht mit dem Verborgenen – mit dem, was Sie nicht verstehen –, sondern mit dem Offenbaren, mit dem, was Sie verstehen. Versuchen Sie nicht, alles auf einmal zu ändern, und ringen Sie nicht mit dem, was sich nicht ändern lässt. Konzentrieren Sie sich auf das, was sichtbar ist – auf das, worauf Sie Einfluss haben. Das ist ein guter Ausgangspunkt für Teschuwa. Und hier sind die Worte der Ermutigung der Parascha: «Denn dieses Gebot … es ist nicht im Himmel» (30, 11–12). Diese Worte wurden von dem Komponisten Yossi Green vertont und von Avraham Fried in einem der schönsten Lieder gesungen: «Glaube, dass es möglich ist. Nichts liegt außerhalb deiner Fähigkeiten. Es ist nicht im Himmel und nicht jenseits des Meeres, ›denn diese Sache ist dir ganz nahe – in deinem Mund und in deinem Herzen, es zu tun‹.»
Erinnern wir uns: Die Wahl liegt bei uns
Weiter heißt es in unserem Wochenabschnitt: «Siehe, ich habe dir heute das Leben und das Gute vorgelegt, den Tod und das Böse» (30,15). Erinnern wir uns, dass die Wahl bei uns liegt. Nicht bei Ihrem Coach, nicht bei Ihrem Chef, nicht beim Psychologen oder Rabbiner, auch nicht beim Partner. Wir selbst sind verantwortlich.
Und dann geht es um die Umkehr selbst: «Du wirst zurückkehren zum Ewigen, deinem Gott … und der Ewige wird deine Rückkehr erwidern und dir Erbarmen schenken» (30, 2–3). Wenn Sie den ersten Schritt zur Veränderung und zur Umkehr machen, werden Sie sehen: Die weiteren Schritte kommen wie von selbst, als würden sie von einer höheren Kraft getragen.
Im Talmud heißt es: «Wer kommt, um sich zu reinigen, dem wird geholfen» (Joma 38b). Sobald Sie beginnen, sind Sie bereits im Prozess. Und alles erscheint in einem neuen Licht.
Die Parascha spricht sozusagen in «vier Sprachen der Umkehr». Wir kennen die «vier Sprachen der Erlösung» von Pessach. Hier aber bietet uns die Parascha vier Stufen, mit denen Gott den Menschen auf dem Weg der Umkehr begleitet.
Erstens: «Und Er wird dich sammeln aus allen Völkern» (30,3). Sobald Sie beginnen, entfernen Sie sich bereits von den schlechten Orten, an denen Sie waren.
Zweitens: «Und Er bringt dich in das Land» (30,5). Sie beginnen, in eine positive Umgebung zu kommen. Vielleicht fühlen Sie sich noch nicht wohl, aber die Atmosphäre um Sie herum ändert sich.
Drittens: «Und Er wird dir Gutes tun» (30,5). Allmählich, nach viel Mühe und Weg, kommt das gute Gefühl.
Viertens: «Und der Ewige, dein Gott, wird dein Herz beschneiden» (30,6). Jetzt ist der Wandel vollzogen. Nach einem langen, herausfordernden Weg ist das Herz verwandelt und befindet sich am richtigen Ort.
Nur wenige Kulturen und Religionen bieten eine so große Gelegenheit zur inneren Veränderung
Am Motza’ei Schabbat, dem Samstagabend, werden sich die Synagogen mit Slichot-Gebeten füllen – als letzte Vorbereitung auf Rosch Haschana. Nur wenige Kulturen und Religionen bieten eine so große Gelegenheit zur inneren Veränderung. Insofern haben nur wenige Menschen das Privileg, diese Möglichkeit zu nutzen. Wer sie nutzt, profitiert für das ganze kommende Jahr. Nach dem Lesen der Parascha wird der Weg dorthin ein wenig klarer.
Und wir schließen mit dem Segenswunsch aus dem Rosch-Haschana-Gebet «Besefer Chaim»: «Mögen wir und Dein ganzes Volk, das Haus Israel, vor Dir erinnert und eingeschrieben werden in das Buch des Lebens, des Segens, des Friedens und des reichlichen Lebensunterhalts – für ein gutes Leben und für Frieden.»
Der Autor ist Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.
inhalt
Im Zentrum des Wochenabschnitts Nizawim steht der Bund des Ewigen mit dem gesamten jüdischen Volk. Diesmal sind ausdrücklich auch diejenigen Israeliten miteinbezogen, die nicht anwesend sind: die künftigen Generationen. Gott versichert den Israeliten, dass Er sie nicht vergessen wird, doch sie sollen die Mizwot halten.
5. Buch Mose 29,9 – 30,20