Beschalach

Der lange Weg

Ankunft in der Freiheit: äthiopische Einwanderer auf dem Flughafen in Tel Aviv Foto: GPO

Nachdem Gott zahlreiche Wunder vollbracht und Seine Macht demonstriert hat, verlassen die Israeliten Ägypten. Die Welt wird Zeuge von Gottes unermüdlicher Unterstützung und Seinen Liebesbeweisen gegenüber dem jüdischen Volk.

Der Anfang des Wochenabschnitts Beschalach beschreibt, wie das befreite Volk in der Wüste einen Umweg nimmt. Tagsüber zeigt eine Wolkensäule den Weg, in der Nacht eine Feuersäule.

Wolkensäule Inmitten dieser wenigen Verse steht Vers 19, der ein wenig deplatziert erscheint. Es wird beschrieben, wie Mosche ein altes Versprechen seiner Vorfahren einlöst. Er trägt die Gebeine von Josef mit sich, damit sie im Gelobten Land ihre letzte Ruhe finden können. Josef hatte kurz bevor er starb seine Nachkommen schwören lassen, dass sie seine Gebeine eines Tages nicht in Ägypten zurücklassen.

Inmitten dieser wenigen Verse
steht Vers 19, der ein wenig
deplatziert erscheint.

Einige Kommentatoren befassen sich mit der Frage, warum gerade hier davon berichtet wird. Warum ausgerechnet nach der Erwähnung des Umwegs, der zum Teil Unmut in den Reihen Israels auslöste? Chronologisch wäre es sinnvoller gewesen, Mosches Taten beim ersten Aufbruch aus Ägypten zu erwähnen.

Vertrauen Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) betont, dass die 600.000 israelitischen Männer (2. Buch Mose 12,37) bewaffnet aus Ägypten auszogen. Dennoch trauten sie sich nicht zu, fest im Glauben den Kampf um das von Gott verheißene Land zu gewinnen. Trotz ihrer neu gewonnenen militärischen Macht zweifelten sie daran, siegreich ins Heilige Land zu ziehen.

Ganz anders hingegen war Josef. Rabbiner Hirsch beschreibt ihn als einen »wahren Juden«, der mit Zuversicht über seinen Tod hinausblickte. Er vertraute darauf, dass sich die »göttliche Verheißung« erfüllen werde. Deshalb bezeichnet Rabbiner Hirsch die vorangehenden Gebeine Josefs als die »lauteste Predigt«, die Mosche dem Volk halten konnte.

Josefs charakterliche Stärke ließ ihn auch in all seinem Leid das Göttliche erkennen. Selbst in den dunkelsten Stunden, als ihn seine Brüder ablehnten und in eine Grube warfen, sah er darin die Durchführung des göttlichen Willens. Dadurch konnte er das Leid, das ihm seine Brüder zufügten, ertragen.

Fügung Anders als das Volk, das von einer Wolke, die ständig präsent war, durch die Wüste geführt wurde, hatte Josef keinerlei Wegweiser. Und doch erkannte der erst 17-Jährige in allem eine göttliche Fügung.

Warum meint Rabbiner Hirsch, dass Josef das Volk lehren sollte, zuversichtlich zu sein? Hätte das Volk von Josef nicht vielmehr lernen können, sich der göttlichen Führung bewusst zu sein? Warum war nicht das die »lauteste Predigt«?

Vielleicht kann man in Rabbiner Hirschs Argumentation noch eine weitere versteckte Botschaft erkennen: Es ist ein Unterschied, ob die Überzeugung auf äußeren Gegebenheiten beruht oder aus einer inneren Grundanschauung hervorgeht.

Vielleicht kann man in Rabbiner Hirschs Argumentation noch eine weitere versteckte Botschaft erkennen.

Es ist nicht das Ziel des Menschen, nach äußeren Gegebenheiten, nach »Wolken«, zu suchen. Wer »Wolken« braucht, um seine Überzeugungen zu entwickeln, scheint seinen Glauben nicht verinnerlicht zu haben. Eine wirkliche Überzeugung wächst individuell und organisch im Menschen.

Anweisung Die erste Anweisung, die Awraham von Gott bekam, war: »Geh für dich!« Ihm wurde nicht gesagt, wohin er gehen sollte, und auch nicht, wann er am Ziel war. Diese Entscheidungen waren Teil der inneren Identität Awrahams. Er spürte oder wusste, was Gott von ihm erwartet.

Laut Rabbiner Hirsch bestand Josefs Lehre nicht darin, das Volk zu ermahnen, die äußeren Gegebenheiten und Zeichen zu nutzen und dadurch zuversichtlich zu sein. Nein, es ging vielmehr darum, das Volk zu ermutigen, seine innere Überzeugung zu entwickeln, in diesem Fall in Form militärischer Macht.

Es waren besondere Zeiten, als das jüdische Volk durch die Wüste zog und Gott sich ungewöhnlich häufig offenbarte. Aber der Mensch muss sich seiner eigenen Stärken bewusst werden und sich weiterentwickeln. Seinen Glauben an äußeren Dingen festzumachen, ist nicht ideal, ja sogar gefährlich.

Das Äußere kommt und geht. Das Einzige, was bleibt, ist der Mensch mit seinen eigenen Überzeugungen und seinen individuell vorhandenen Stärken. Das war die »lauteste Predigt«, die die Israeliten von Josef lernen konnten.

Das Äußere kommt und geht.

Ein Mensch hat die Aufgabe, das Göttliche in sich zu entdecken. Auf Zeichen Gottes zu hoffen, Ratschläge von anderen einzuholen, auf Interpretationen von Träumen zu setzen oder dem Pendel oder den Tarotkarten Fragen zu stellen, sind äußerliche Dinge. Sie taugen bestenfalls als Hilfsmittel, und wenn es schlimm kommt, sind sie sogar falsch und nicht religionskonform. Hinzu kommt die Gefahr, dass der Mensch, wenn er sich von solchen Mitteln abhängig macht, das Göttliche in seinem Inneren, seine Spiritualität und Stärke, seine ganz eigene Verbindung zu Gott nie richtig entfaltet und entwickelt. Der Mensch muss innerlich wachsen und innerliche Grundüberzeugungen entwickeln. Er muss aufhören, immerzu nach Wolken zu suchen, die ihm das Gefühl der Sicherheit geben.

Die Wolken kommen und gehen. Doch was bleibt, ist der persönliche Auszug aus Ägypten ins Heilige Land – eine Lebensaufgabe für jeden Einzelnen.

Der Autor ist Psychologe in Osnabrück. Er hat an Jeschiwot in Jerusalem und in England studiert.

inhalt
Der Wochenabschnitt Beschalach erzählt, wie die Kinder Israels auf der Flucht vor dem Pharao und seinen Truppen trockenen Fußes das Schilfmeer durchquerten. Es öffnete sich vor ihnen und schloss sich hinter ihnen wieder, sodass die Männer des Pharaos in den Fluten ertranken. Danach beginnt der eigentliche Weg Israels durch die Wüste. Es wird berichtet, wie der Ewige die Menschen mit Manna und Wachteln versorgt und sie auffordert, Speise für den Schabbat beiseitezulegen. Dennoch fehlt es an Wasser, und die Kinder Israels beschweren sich bei Mosche. Der lässt daraufhin Wasser aus einem Felsen hervorquellen. Schließlich werden die Israeliten von Amalek angegriffen, aber sie schlagen ihn.
2. Buch Mose 13,17 – 17,16

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  25.11.2025

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025