Der Monat Elul, der mit Rosch Haschana zu Ende geht, ist ein eindringlicher Monat. Ein Monat des Reflektierens über das vergangene Jahr, aber auch ein Monat der Perspektive: Das nächste Jahr kann anders und verändert sein. Wir können in uns gehen, einiges vielleicht besser machen als im vorherigen Jahr.
Die jüdische Tradition besagt, dass im Elul Gott, der König, in den Feldern wandelt. Er verlässt seinen Palast und trifft sein Volk dort, wo es das Land bearbeitet. In dieser Zeit bedarf es keiner besonderen Vorbereitung, den König zu treffen, wir müssen nur bereit sein und den Schritt in die Felder wagen.
Elul geht den Hohen Feiertagen voran, und wir wissen, dass wir dem jährlichen Gericht ausgesetzt sein werden. Im Buch Kohelet heißt es: »Und die Erhabenheit der Erde ist in allem; sogar der König ist dem Feld untergeordnet.« Raschis Kommentar auf diesen Vers beschreibt den König als Richter, der den »Zerstörer« bestraft und den »Erbauer« belohnt. Der Midrasch Wajikra Rabba (Paraschat Emor 30,4) sieht Gott »an Rosch Haschana und Jom Kippur kommen, um die Erde und die Völker mit Gerechtigkeit zu richten«, wie es auch im 2. Buch Mose schon beschrieben ist. Dort heißt es, dass Gott »Schuld und Fehlverhalten« ahndet, er aber auch die »Liebe bis ins tausendste Geschlecht« bewahrt (2. Buch Mose 34,7). Raschi versteht Gottes grundlegendes Anliegen als »ha’tow we’ha’metiw«, er zeigt seine Güte und erweist Gutes.
Im Talmud finden wir eine Diskussion über biblische Verse, die die Rabbiner in Emotionen versetzen: Raw Asi beginnt zu weinen, wenn er den Vers im Buch Amos liest, dass Gott »das Böse hasst und das Gute liebt und Gerechtigkeit stiftet – vielleicht wird er gnädig sein« (Chagiga 5b).
Am Ende eines Jahres, im Elul, bestimmen Ernst und Unsicherheit unser Leben, aber auch Hoffnung. Werden wir hoffentlich wieder in das Buch des Lebens eingeschrieben werden?
Der König ist in den Feldern – dies erinnert an eine weitere jüdische Tradition. Jeden Schabbat erwarten wir die Schabbatkönigin. Die Legende besagt, dass die Mystiker in Safed dafür am Freitagabend bei Sonnenuntergang in die Felder gingen, um die Königin schon draußen willkommen zu heißen. Auch wir begrüßen sie heute, wenn wir am Freitagabend sehnsuchtsvoll das Lecha Dodi singen: »Komm, meine Geliebte«, so heißt es dort, in der Hoffnung, dass die Königin aus dem großen, uns unbekannten Raum in unsere kleine Welt eintritt und das Versprechen von Liebe, Trost und Frieden, von Olam Haba, mit sich bringt.
Der König ist in den Feldern: Vielleicht bedeutet das nicht, dass der König vom Himmel herabkommt, um uns zuzuhören, wenn wir unser Leid klagen, Rat suchen oder Wünsche für das kommende Jahr aussprechen. Vielleicht ist das Konzept ein anderes: Wir selbst müssen uns in Bewegung setzen, wandeln und verwandeln. Wie die Mystiker von Safed, wie die Schabbatbraut, die sich auf den Weg macht, und der König, der sein Schloss verlässt – wir bewegen uns, um in einen anderen Raum einzutreten als den vertrauten.
Unser Los- und In-uns-gehen bringt kostbare Versprechen mit sich: uns in das zu verwandeln, was wir wirklich sein könnten. Wir können mit Liebe und Kraft, Energie und Freiheit unseren eigenen Weg suchen. Und mit dem Risiko und der damit verbundenen Verantwortung unsere eigenen Entscheidungen treffen. Im Elul, wenn der König in den Feldern zu finden ist, können wir längst nicht mehr fragen: »Wer steigt für uns zum Himmel und holt sie uns?« (5. Buch Mose 30,12). Die Tora ist längst bei uns als Weisung, und wir können mit ihrer Hilfe unseren eigenen göttlichen Funken auf den Wegen, die wir beschreiten, leuchten und scheinen lassen, für uns und für andere.
Shoshana Ruerup ist Malerin und Montessori-Pädagogin. Sie studiert im »International Halakha Scholars Program« der Midreshet Lindenbaum in Jerusalem.