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Der »kleine Bruder«

Jüdische Männer beim Studium von Quellen in der Jerusalemer Hurva-Synagoge. Foto: imago images/UIG

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Der »kleine Bruder«

Lange fristete der Jerusalemer Talmud eine Randexistenz – nun wird er in einer neuen englischen Übersetzung gewürdigt

von Igor Itkin  27.01.2022 14:50 Uhr

Der »Talmud Jeruschalmi«, der Jerusalemer Talmud, ist so etwas wie der »kleine Bruder« des Talmud Bavli, des Babylonischen Talmuds. In der Forschungsliteratur heißt er hinsichtlich seines Entstehungsortes auch »Palästinischer Talmud«, denn er wurde in Tiberias und Caesarea geschrieben und nicht, wie sein Name andeutet, in Jerusalem.

Mit der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstands im Jahr 138 n.d.Z. wurden die jüdischen Lernzentren in Israel zerstört, das Land wurde in Palästina umbenannt, das Betreten von Jerusalem unter Todesstrafe gestellt und das öffentliche Lehren der Tora verboten. Die Weitergabe der Tora an die nächste Generation und damit das Überleben des Judentums standen vor einer existenziellen Bedrohung.

Der »Jeruschalmi« wurde nicht in Jerusalem geschrieben, sondern in Tiberias und Caesarea.

Die Rabbiner entschieden, die mündliche Lehre des Judentums zu strukturieren und niederzuschreiben. So entstand um das Jahr 218 die Mischna. Sie ist eine Sammlung religiöser Traditionen, die Jahrhunderte zurückreichten.

MISCHNA Die Mischna ist bis heute autoritativ, jedoch ist sie sehr kurz, oft kryptisch, und bedarf der Erläuterung. Unmittelbar nach der Veröffentlichung und unter besseren politischen Verhältnissen begannen Rabbiner, die Mischna zu kommentieren und zu erläutern, sowohl in Israel wie auch in Babylon, wo zuvor jüdische Lernzentren entstanden waren. Dies führte zur Entstehung beider Talmudim, des »Jeruschalmi« und des »Bavli«.

Mit der Christianisierung des Römischen Reiches durch Kaiser Konstantin begann die Kirche einen Krieg gegen die jüdische Lehre, was schließlich um 425 zum Niedergang der Akademien in Israel führte. Damit wurde auch die Redaktion des »Jeruschalmi« zwangsweise beendet, was ihn zum älteren der beiden Talmudim macht; der »Bavli« wurde noch weitere 200 Jahre redigiert.

Weder der Babylonische noch der Jerusalemer Talmud umfassen alle 63 Traktate der Mischna. Der »Jeruschalmi« umfasst 39 Traktate, dazu gehört die Ordnung Seraim, von den Saaten, welche im »Bavli« fehlt. Der Babylonische Talmud dagegen umfasst nur 37 Traktate, ist aber in seiner Komposition fast dreimal größer als der »Jeruschalmi«. Der »Bavli« verdankt seine Größe der letzten literarischen Schicht, das Werk mehrerer Genrationen anonymer Redakteure, die ihm die Eigenschaft verliehen haben, die wir am meisten lieben und schätzen, die komplexe und zugleich kreative Dialektik.

Diese Ebene fehlt dem »Jeruschalmi«, was ihn etwas roh und unbearbeitet erscheinen lässt, andererseits bewahrt er die ursprüngliche, unverarbeitete Fassung rabbinischer Aussagen. Die Redakteure des Babylonischen kannten den Jerusalemer Talmud, sie benutzten und verarbeiteten ihn weiter.

Das gibt uns die einzigartige Möglichkeit, die Methoden der babylonischen Redakteure nachzuverfolgen und zu verstehen, wie sie das Rohmaterial des »Jeruschalmi« weiterentwickelten und welchen Einfluss ihre soziale Umgebung auf diese Entwicklung hatte – eine Goldgrube für die Literaturkritik.

Der »Jeruschalmi« war maßgeblich als Quelle der Halacha bei den Juden in Israel und Nordafrika in Gebrauch, bis der »Bavli« ihn im 10. Jahrhundert verdrängte. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist der »Bavli« ausführlicher, zum anderen fehlt dem »Jeruschalmi« die gesamte Ordnung »Kodaschim« und somit auch der für das religiöse Leben wichtige Traktat Hullin, der von den Speisegesetzen handelt.

Außerdem ist seine Sprache, das Aramäisch aus Galiläa, nicht mit dem babylonischen Aramäisch zu vergleichen. Einem Kenner des Babylonischen Talmuds wird es schwerfallen, mit der Sprache des Jerusalemer Talmuds ohne Übersetzung zurechtzukommen. All das führte dazu, dass der »Jeruschalmi« kaum als eigenständiges halachisches Werk studiert und deutlich seltener kopiert wurde.

KOMMENTARE In jüdischen Zentren Europas war er lange Zeit nicht bekannt; Raschi kannte ihn nur aus Zitaten. Dennoch wurde er nie vergessen. Die ersten Kommentare entstanden im 17. Jahrhundert, aber erst im 18. Jahrhundert erweckte er größeres Interesse der jüdischen Gelehrten. Mit seiner 17-bändigen Übersetzung legte Heinrich Guggenheimer, neben Neusner und Artscroll, die dritte englischsprachige Übersetzung vor.

Die Übersetzung folgt dem Erstdruck und dem einzig erhaltenen Manuskript von 1289.


Der vollständig vokalisierte hebräische Text folgt dem Erstdruck von 1523, der wiederum auf dem einzig erhaltenen Manuskript von 1289 basiert. Gelegentlich werden ältere Fragmente aus der Kairoer Geniza eingebunden. In dieser Hinsicht hat Guggenheimer gegenüber den anderen Übersetzungen den Vorzug, denn Neusner liefert gar keinen hebräischen Text, und Artscroll basiert auf der korrumpierten Vilna-Ausgabe.

Die englische Übersetzung liest sich sehr flüssig und einfach, eher wie ein literarischer Text als ein Gesetzestext. Dagegen ist die Übersetzung nicht so einfach zu verstehen, wie sie zu lesen ist. Wenn man versucht, die Argumentationsstruktur zu verstehen (was ist die Frage, was ist die Antwort, was ist der Einwand …), wird der Leser im Stich gelassen. Wenn der Talmud die Bibel zitiert, um eine Aussage zu untermauern, wird nicht deutlich, wie das Zitat diesem Zweck dient oder warum es überhaupt angeführt wird. Guggenheimer erklärt es manchmal in den Fußnoten, aber nicht sehr oft. Das macht die 50-bändige Übersetzung von Artscroll besser.

WIEDERHOLUNG Charakteristisch für den Jerusalemer Talmud ist die fast wörtliche Wiederholung längerer Abschnitte in verschiedenen Traktaten mit kleinen Variationen und Abweichungen. Um diese kleinsten Abweichungen aufzuzeigen, bedient sich Guggenheimer neben Fußnoten eines kritischen Apparates, der gut funktioniert, aber in der Online-Fassung (siehe unten) leider fehlt.

Dagegen ist er bei diesen Wiederholungen mit der Erklärung sehr sparsam. Längere Abschnitte haben gar keine Erklärung, weil sie in einem anderen Band bereits vorkamen. Der Autor verweist nur auf den Traktat und die entsprechenden Fußnoten, wo die Erklärung zu finden ist. Guggenheimer geht also davon aus, dass man alle 17 Bände besitzen muss, um den Text zu verstehen.

Überhaupt bereiten die Fußnoten große Schwierigkeiten. Einerseits finden sich dort viele Schätze, die den Forschungsstand des 21. Jahrhunderts widerspiegeln. Guggenheimer legt viel Wert auf die Erklärung der griechischen und lateinischen Fremdwörter, er zitiert Autoren wie Plinius, Saul Liebermann und Michael Sokoloff, was bei Artscroll undenkbar wäre.

FUSSNOTEN Andererseits ist er sehr sparsam darin, den Kontext und die Argumentationsstruktur zu erklären. Auch leuchtet nicht ein, warum sich der Verlag De Gruyter entschieden hat, die Fußnoten nicht am Fuß der Seite anzubringen, sondern am Ende eines Sinnabschnitts.

Bei kürzeren Abschnitten wird eine Übersicht gewährleistet, aber bei längeren Abschnitten muss man hin- und herblättern. Wenn Guggenheimer ein hebräisches Wort erklärt, muss man zuerst ein paar Seiten vorblättern, die Fußnote lesen, dann zurückblättern, sich ungefähr die Position des englischen Wortes merken, dann nochmals zum hebräischen Text zurückblättern und dann, da der hebräische Text keine Fußnoten enthält, das Wort, worauf sich die Fußnote bezog, im Text suchen; man hätte es besser lösen können. Am Ende jedes Bandes befindet sich ein ausführlicher, gut organisierter Index.

Zusammengefasst: Guggenheimers wissenschaftliche Übersetzung ist präzise und beruht auf der linguistischen Forschung der Zeit. Für alle, die sich der Originalsprache bedienen, wird diese Übersetzung von großer Hilfe sein.

Sefaria hat die Rechte erworben und alle Bände kostenlos online zur Verfügung gestellt.

Unerfahrene Leser werden jedoch Schwierigkeiten haben, Sinn und Bedeutung mancher Abschnitte zu verstehen. Zu unserer großen Freude hat die Online-Bibliothek Sefaria die Rechte vom Verlag De Gruyter erworben und alle Bände kostenlos in ihrer Bibliothek zur Verfügung gestellt; nun wird der »Jeruschalmi« seinen gebührenden Einzug in das Bewusstsein des jüdischen Volkes im 21. Jahrhundert halten.

Der aus der Schweiz stammende Heinrich Guggenheimer (1924–2021) war Professor für Mathematik in New York. Neben zahlreichen mathematischen Veröffentlichungen widmete er sich der Erforschung traditioneller jüdischer Schriften und machte sich durch seine Übersetzung und Erklärung der Haggada und des Seder Olam einen großen Namen.

»The Jerusalem Talmud: Edition, Translation, and Commentary«. Herausgegeben von Heinrich W. Guggenheimer. Gesamtausgabe (17 Bände) als Paperback, 255 €

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