Liturgie

Der Chasan als Wegweiser

Chaim Adler 2005 in der Synagoge in Köln Foto: picture-alliance/ dpa

Liturgie

Der Chasan als Wegweiser

In seiner Biografie beschreibt Oberkantor Chaim Adler besondere Begegnungen und Herausforderungen eines Vorbeters

von Yizhak Ahren  20.10.2022 06:46 Uhr

Wer sich für zeitgenössische Chasanut, also für Kantorengesang, interessiert, der hat sicher schon von Chaim Adler gehört. Dieser chassidische Chasan ist bekannt als »Oberkantor von Tel Aviv«, er ist einer der berühmtesten Kantoren unserer Zeit.

Als Papst Benedikt XVI. im August 2005 die Kölner Synagoge besuchte, wurde Adler aus Israel eingeflogen, um der festlichen Veranstaltung einen würdigen musikalischen Rahmen zu verleihen. In seiner kürzlich veröffentlichten Autobiografie beschreibt Adler das Geschehen im Kölner Bethaus und seinen kurzen Dialog mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche.

KARRIERE In dem bilderreichen Buch schildert Adler (Jahrgang 1939), der ein ordinierter Rabbiner ist, die Stationen seiner internationalen Karriere. Ausführlich berichtet er von Begegnungen mit anderen großen Kantoren, deren Eigenart er treffend zu charakterisieren weiß.

An vielen Stellen der Autobiografie geht Chasan Adler auf sein Amtsverständnis ein. Seine Bemerkungen über die Aufgaben eines Kantors beleuchten Aspekte, die manchmal übersehen werden. So zum Beispiel, dass ein Kantor verschiedenen Aufgaben gleichzeitig gerecht werden muss. Natürlich erwartet eine Gemeinde von ihrem Chasan, dass er musikalisch begabt ist und eine gut ausgebildete Stimme hat. Aber Adler betont, dass ein guter Chasan mehr als nur ein Gesangskünstler sein sollte, vor allem wirke er als Botschafter, Wegweiser und Erzieher.

Eine Synagoge sei keine Konzerthalle, betont Chaim Adler.

Der Chasan ist ein Vertreter der Gemeinde (hebr.: Schaliach Zibbur) bei der Tefilla, dem Gebet. Nach Adlers Überzeugung ist der Chasan stets auch ein Vertreter des Allgegenwärtigen. Beim Vortrag der überlieferten Gebetstexte interpretiert der Chasan Passagen der Tefilla in einer angemessenen musikalischen Art und Weise, sodass die Herzen der Anwesenden tief bewegt werden.

TESCHUWA Durch eine wohldurchdachte Arbeit am Vorbeterpult vermag ein guter Chasan, Glaubensgenossen nicht nur auf eine höhere geistige Stufe zu bringen, sondern sogar zur Umkehr (hebr.: Teschuwa) zu bewegen. Ist dieses Ziel der Teschuwa wirklich erreichbar?

Adler erzählt folgende Anekdote: Seine Ehefrau, Shoshana, wurde einmal in der Großen Synagoge in Jerusalem, in der Adler als Chasan amtierte, von einer aufgeregten jungen Frau angesprochen, die nicht wusste, mit wem sie es zu tun hatte: »Haben Sie schon einmal einen solchen Chasan gehört? Ich nicht!« Bevor sie der jungen Dame verriet, dass sie die Gattin des gelobten Vorbeters sei, wollte sie von ihr wissen, woher sie Chasan Adler kenne.

Diese berichtete, sie sei zwar in einer religiösen Familie aufgewachsen, habe sich aber von den jüdischen Lebensformen entfernt. Dann habe sie eine Tefilla von Chasan Adler gehört, und dieses Erlebnis habe ihr Herz so erschüttert, dass sie beschloss, den Weg der Teschuwa zu gehen.

PERSÖNLICHKEIT Jüdische Beterinnen und Beter Gott näher zu bringen, ist eine Aufgabe, die viel Können und Anstrengung erfordert. Für jüngere Kollegen hat Adler daher einige hilfreiche Tipps zusammengestellt: So soll der Chasan den Worten der Tefilla die Priorität einräumen, nicht der musikalischen Virtuosität. Eine Synagoge sei keine Konzerthalle, betont er. Man könne durchaus glanzvolle Stücke anderer Chasanim übernehmen; die Kunst bestehe darin, nicht einfach den Gesang des Kollegen zu kopieren, sondern das Gebet gemäß der eigenen Persönlichkeit vorzutragen.

Musik spielt übrigens nicht nur im Bethaus eine wichtige Rolle, sondern auch am Esstisch observanter Familien. Man denke beispielsweise an Lieder (Semirot), die am Schabbattisch gesungen werden. Diese sorgen für eine heitere Stimmung, sie erfreuen das Herz der Anwesenden. Gesteigert wird die Freude am Gesang, wenn die Kantoren nicht nur verschiedene Melodien kennen, sondern auch mit dem Inhalt der Schabbatlieder vertraut sind. Deshalb sollte man im jüdischen Religionsunterricht sowohl zentrale Texte der Tefilla als auch die bekanntesten Semirot besprechen.

Chaim Adler: »HaChasan Haraschi« (hebr.). Zuf Hozaa Laor, Jerusalem 2022, 449 S., 100 NIS

Rom

Eklat durch NS-Vergleich bei interreligiösem Kongress

Der Dialog zwischen katholischer Kirche und Judentum ist heikel. Wie schwierig das Gespräch sein kann, wurde jetzt bei einem Kongress in Rom schlagartig deutlich. Jüdische Vertreter sprachen von einem Tiefpunkt

von Ludwig Ring-Eifel  27.10.2025

Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Die rätselhafte Geschichte einer Frau zwischen Märtyrertum und Missverständnis

von Yizhak Ahren  24.10.2025

Schöpfung

Glauben Juden an Dinosaurier?

Der Fund der ersten Urzeitskelette stellte auch jüdische Gelehrte vor Fragen. Doch sie fanden Lösungen, das Alter der Knochen mit der Zeitrechnung der Tora zu vereinen

von Rabbiner Dovid Gernetz  23.10.2025

Noach

Ein neuer Garten Eden

Nach der Flut beginnt das Pflanzen: Wie Noachs Garten zum Symbol für Hoffnung und Verantwortung wurde

von Isaac Cowhey  23.10.2025

Rabbiner Noam Hertig aus Zürich

Diaspora

Es geht nur zusammen

Wie wir den inneren Frieden der jüdischen Gemeinschaft bewahren können – über alle Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten hinweg

von Rabbiner Noam Hertig  23.10.2025

Bereschit

Die Freiheit der Schöpfung

G›tt hat für uns die Welt erschaffen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, sie zu verbessern

von Rabbiner Avichai Apel  17.10.2025

Talmudisches

Von Schuppen und Flossen

Was unsere Weisen über koschere Fische lehren

von Detlef David Kauschke  17.10.2025

Bracha

Ein Spruch für den König

Als der niederländische Monarch kürzlich die Amsterdamer Synagoge besuchte, musste sich unser Autor entscheiden: Sollte er als Rabbiner den uralten Segen auf einen Herrscher sprechen – oder nicht?

von Rabbiner Raphael Evers  17.10.2025

Mussar-Bewegung

Selbstdisziplin aus Litauen

Ein neues Buch veranschaulicht, wie die Lehren von Rabbiner Israel Salanter die Schoa überlebten

von Yizhak Ahren  17.10.2025