Neuanfang

Der Aufbruch beginnt im Kopf

Man muss nur den richtigen Knopf finden... Foto: Thinkstock, Montage: Marco Limberg

An Rosch Haschana breitet sich in mir jedes Jahr eine unglaubliche Freude aus. Rosch Haschana ist die Chance zu einem wirklichen Neuanfang. Aber nicht nur das – diese Tage geben mir auch die Möglichkeit, mein Potenzial für das ganze neue Jahr aufzubauen. Rosch Haschana ist ein Einschnitt, eine absolut bereinigende Erfahrung. Ein Punkt, von dem aus ein völlig neues Leben beginnt.

Den ganzen Monat Elul habe ich mich innerlich auf Rosch Haschana eingestellt. Trotzdem bin ich nicht gut vorbereitet. Es ist jedes Jahr dasselbe. Ich habe nie das Gefühl, genug getan zu haben. Aber ich glaube, im Grunde ist das sogar die beste Vorbereitung. Wenn ein Mensch nämlich glaubt, dass er alles richtig gemacht hat, dann ist meiner Meinung nach etwas falsch gelaufen. Weil er dann auf jeden Fall etwas vergessen und verloren hat.

Kraft Das, was uns antreibt, ist eine innere Kraft, die sagt: Du hast nicht genug getan, um dich wirklich zu ändern. Du darfst von der spirituellen Arbeit an dir selbst nicht ablassen. Aber wenn Rosch Haschana anfängt (für mich ist das die Zeremonie »Hatarat Nedarim«, bei der wir unsere Gelübde und unerfüllten Versprechen vor einem Beit Din aus drei Juden auflösen), in diesem Moment ist alles, was im vergangenen Jahr gewesen ist, aus und vorbei. Und das, was übrig bleibt, ist eine riesige große Freude.

Trotzdem kann es manchmal passieren, dass wir gerade an den Feiertagen merken, was uns fehlt. Wir denken zum Beispiel darüber nach, dass Beziehungen nicht gut ausgingen, oder dass wir schon lange von alten Freunden nichts gehört haben. Aber das können wir ändern: Auch nach Rosch Haschana können wir noch zum Telefonhörer greifen, im Internet oder auf Facebook nach unseren alten Freunden suchen, unseren ganzen Mut zusammennehmen und ihnen sagen: »Dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir? Bist du noch sauer wegen damals? Ich wollte dir sagen: Ich mag dich noch – trotz allem!« Und das kann sehr bereinigend sein. Ich mache das mit Freunden und auch mit früheren Geschäftspartnern. Denn ansonsten bleibt in meiner Seele etwas zurück.

Schuldgefühle Eines der schlimmsten Dinge, die ich kenne, sind Schuldgefühle. Sie sind das, was uns kleinhält und unser spirituelles Wachstum verhindert. Schuldgefühle sind völlig sinnlos. Sie verhindern, dass wir einen Schritt nach vorne machen und uns wirklich ändern. Sie verhindern, dass wir uns zu einem Fehler bekennen und sagen: Ich weiß, da war etwas, lass uns das bereinigen. Wenn du dich ändern willst, dann tue das. Fang an, dich anders zu verhalten! Aber hör auf, dich in den Fehlern der Vergangenheit zu suhlen!

Und vor allem versuche, mit deinem Neid klarzukommen! Denn Neid ist etwas, das den Menschen von innen heraus angreift – egal, ob ich jemanden beneide, der besser aussieht als ich, ein schöneres Auto oder schickere Klamotten hat oder eine bessere Beziehung führt. Wenn ich mich nur darüber ärgere, warum ich nicht so eine gute Beziehung haben kann, dann reflektiere ich nicht, was mein eigener Anteil daran war, dass es anders gelaufen ist.

Neid bedeutet, etwas zu nehmen oder haben zu wollen, das mir nicht gehört. Jemanden zu beneiden gibt uns zwar eine gewisse Energie. Deshalb sitzen wir so gerne im Café und lästern über andere. Aber wenn wir wirklich verstehen, was in uns vorgeht, können wir daran arbeiten, das zu stoppen und zu sagen: Ich möchte mindestens so eine schöne und gute Beziehung haben wir derjenige, den ich beneide – sogar eine bessere. Aber dafür muss ich etwas tun. Ich muss mich ändern, ich muss dafür sorgen, dass meine nächste Beziehung besser läuft.

Opfer Es ist einfach, sich als Opfer des Lebens zu sehen. Es ist so leicht, zu sagen: »Mir passieren Dinge, ich bin fremdgesteuert, ich bin ein armes Würstchen und versuche, mich irgendwie durchzuhangeln.« Das Judentum sagt dazu: Nein! Wir sind eigene Schöpfer unseres eigenen Schicksals. Wir sind in der Lage, unsere Gedanken und unsere Gefühle zu verändern. Dadurch verändert sich erst einmal die Wahrnehmung, und dadurch verändert sich die Welt!

Ich kenne eine Geschichte von zwei Schuhhändlern, die auf einer Insel voller Indianer landen. Alle laufen barfuß. Der erste Händler sagt: »Nichts wie weg, hier kann man kein Geschäft machen!« Der zweite ruft seinen Kollegen in New York an und sagt: »Hier gibt es so viel zu tun, schick mir mal 3000 Schuhe rüber!« In unserem Kopf gibt es zwei Stimmen. Die eine ist pessimistisch und kündigt uns ständig bevorstehende Katastrophen an. Die andere Stimme sagt: Nein, es kann nur besser werden! Die Entscheidung, die wir im Leben fällen müssen, ist zwischen diesen beiden Stimmen. Die Frage ist, wie wir die Realität wahrnehmen und wie wir uns verändern können.

Goldkette Vor vielen Jahren habe ich in Berlin bei der Security von El Al gearbeitet, am Flughafen Schönefeld. Bei meiner Ausbildung habe ich einen Mann mit dicker Goldkette um den Hals und Unmengen von Haaren auf der Brust kennengelernt. Er kam zu spät zu einem Flug, den wir zusammen antreten sollten. Als ich ihn gesehen habe, habe ich gedacht: Was ist denn das für ein Typ? Und ausgerechnet mit ihm musste ich meine zweiwöchige Ausbildungszeit zusammen verbringen. Zum Teil mussten wir sogar im Hotel im selben Bett schlafen. Das war eine korrigierende Erfahrung! Denn was ich dabei gelernt habe: Er war und ist ein unheimlich toller Mensch mit einem Riesenherz, auch wenn er seine Macken hat, so wie jeder von uns – und bis heute ist er einer meiner besten Freunde.

Wenn man es schafft, Menschen nicht anhand ihres Aussehens zu beurteilen, dann öffnen sich einem Welten, die sonst verschlossen bleiben. Wir verurteilen Menschen im Bruchteil einer Sekunde. Wir schauen jemanden an, seine Haare, seine Hose, seine Schuhe, und schon haben wir ein Urteil gefällt. Aber wir können nicht wissen, was dahintersteckt. Rabbi Akiwa hat die ganze Tora in einem Satz zusammengefasst: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Und das ist das Prinzip, das unseren Wunsch nach Veränderung leiten sollte. Ohne einen echten Wunsch kann keine Transformation, kein Veränderungsprozess stattfinden.

Zohar Im Zohar, dem berühmten Buch der Kabbala, finden wir einen Satz aus der Bibel, der im Zusammenhang mit Rosch Haschana erklärt wird: »Es begab sich aber eines Tages, da die Gottessöhne kamen und vor den Herrn traten, dass auch der Satan unter ihnen kam und vor den Herrn trat« (Hiob 2,1). Gott fragt den Satan: Woher kommst du? Und Satan sagt: »Ich habe die Erde hin und her durchzogen.« Der Zohar erklärt, dass dieser Tag Rosch Haschana war – der einzige Tag, an dem der Satan als Ankläger vor den Schöpfer kommt und berichtet, welcher Mensch in seinem Leben dies oder jenes getan hat.

Auf Hebräisch bedeutet das Wort Satan: jemand, der stört. Wie oft will ich einen Artikel schreiben oder etwas anderes tun, und mir kommen dabei Tausende von Gedanken in den Sinn: Ich muss putzen, die Einkaufsliste schreiben, meine Tante anrufen. Das ist Satan – nicht derjenige mit den Hörnern und Dreizack. Wir kämpfen doch die ganze Zeit zwischen einer inneren Stimme, die sagt: Kauf dir was, schaff dir was Neues an, lass es dir gutgehen, egal, wie es den anderen geht. Und eine andere Stimme in uns sagt: Schau mal, es gibt noch so viele Menschen um uns herum, die deutlich weniger haben als du, die leiden und Hilfe brauchen und einfach ein gutes Wort.

An Rosch Haschana geht es nicht darum, dass wir 48 Stunden beten sollen. Es geht wirklich um das Herz. Gott wird auch »bochen lewawot« genannt – der, der die Herzen prüft. Gott will nicht, dass wir stundenlang weinen und uns schuldig fühlen. Der Schöpfer ist unendlich, er braucht unsere Gebete nicht. Er will, dass wir uns ändern, um selbst Schöpfer unseres Lebens zu werden.

Baum Das, was wir Teschuwa nennen, dieser ganze Prozess der Umkehr, der an Rosch Chodesch Elul beginnt und an Schemini Azeret endet, ist dazu da, einen Neuanfang für ein besseres Leben zu schaffen. Es geht nicht um Zeremonien, um Äußerlichkeiten oder Wörter. Sie sind nur Mittel zum Zweck. Der Baum des Lebens ist unendlich. Verbunden zu sein mit dem Baum des Lebens bedeutet, selbst dann, wenn etwas scheinbar zu Ende geht, immer sofort den Neubeginn von etwas Neuem zu sehen, und nicht das Ende und den Verlust.

Rosch Haschana bedeutet auf Hebräisch »Kopf des Jahres«. Und es ist so, wie der Name sagt: Alles beginnt im Kopf. Das ganze Leben, das Glück, die Liebe, die Freude, die gute Beziehung, die Gesundheit. Und wenn ein Tag schon Rosch Haschana heißt, so sollte es uns doch möglich sein, ein bisschen mehr »Seder«, das heißt Ordnung, in unserem Kopf zu schaffen.

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