Zom Gedalja

Der andere Fastentag

Der Kühlschrank wird erst nach Jom Kippur wieder geöffnet. Foto: Thinkstock

Wir bereiten uns auf Rosch Haschana und auf Jom Kippur vor – und sind uns der Bedeutung der »Jamim Hanoraim«, der Tage der Ehrfurcht oder der Hohen Feiertage, bewusst. Doch mitten in diesen Tagen liegt ein historisches Datum von großer Bedeutung, dem nicht immer die ihm gebührende Beachtung zuteilwird.

Im jüdischen Kalenderjahr sind sechs Fastentage verzeichnet. Zwei dieser Fastentage fallen in die erste Hälfte des Monats Tischri. Einer dieser Tage ist allen bekannt – handelt es sich doch um keinen geringeren Tag als um Jom Kippur. Der andere, weniger bekannte Fastentag ist Zom Gedalja, der am 3. Tischri begangen wird – er fällt diesmal auf Sonntag, den 28. September.

Die Fastentage im Judentum haben wie die Feiertage meistens eine historische Bedeutung. Darüber hinaus haben sie eine nicht minder wichtige Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. Was hat sich also am 3. Tischri ereignet, und wer war Gedalja?

Tempel Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir einen Blick in die jüdische Geschichte werfen. Nach der Errichtung des Ersten Tempels durch König Salomo etwa im Jahr 1000 v.d.Z. blieb der Bau ungefähr 400 Jahre bestehen. Das ausschlaggebendste Ereignis in dieser Ära war die Spaltung des jüdischen Königtums in zwei Reiche, das Königreich Israel und das Königreich Juda.

Während des Bestehens des Ersten Tempels gab es Zeiten, in denen die Könige von Israel sich an die Tora hielten und an G’tt glaubten, aber auch andere Zeiten, in denen sich der Glaube an Götzen ausbreitete und die Könige das Volk dazu sogar ermutigten.

Verfall Gegen Ende der 400-jährigen Ära des Tempels, zur Zeit eines schweren spirituellen und moralischen Verfalls, sandte G’tt über die Propheten eine klare Botschaft an das jüdische Volk, dass es zum Glauben zurückkehren und seine Handlungen korrigieren soll (2. Buch Könige 17). Doch nachdem das nicht geschah, wurde der Ewige zornig und beschloss, sein Volk ins Exil zu verbannen und den Tempel zu zerstören. Chasal, die Weisen seligen Angedenkens, erwähnen, dass der Verfall in drei Punkten besonders verheerend war: Götzendienst, Mord und Inzest.

Nach der Zerstörung des Tempels und dem Verlust des spirituellen Mittelpunkts des jüdischen Volkes verbannte Nebusaradan, Oberbefehlshaber der Armee des babylonischen Königs Nebukadnezar, das übrig gebliebene Volk nach Babylon (2. Könige 25,2). Nur eine kleine Gruppe von Juden blieb im Lande Israel zurück.

Aufseher Diesen im Land verbliebenen Juden schlossen sich weitere an, die anfänglich in Nachbarländer geflüchtet waren und nach der Zerstörung des Tempels nach Israel zurückkehrten (Jeremia 40, 11–12). Der König von Babel, Nebukadnezar, bestellte Gedalja, den Sohn des Achikam, zum Aufseher über diese Juden.

Gedalja erhielt damit ein äußerst bedeutungsvolles Amt. Er war Führer der noch verbliebenen Flüchtlinge im Land Israel. Ihm fiel die Aufgabe zu, die Leute nach der Zerstörung des Tempels zu ermutigen. Er musste sie von Kummer und Sorgen befreien, ihnen Mut machen und versprechen, dass der babylonische König Nebukadnezar ihnen nichts Böses zufügen wird.

Er war der Verbindungsmann zur babylonischen Regierung und musste diese über Vorfälle unter den Juden im Land Israel unterrichten. Gedalja war Leitfigur der jüdischen Gemeinde, der die Möglichkeit erhielt, auch nach der Zerstörung des Tempels weiterhin dafür zu sorgen, dass Juden im Land lebten und die jüdische Religion praktizierten.

Neid Aber nicht alle teilten diese Ansicht. Viele waren neidisch und eifersüchtig: so auch Ismael ben Natanja, Sohn von Elischema, ein Nachkomme der Könige, der zu jener Zeit im Land der Ammoniter lebte. Aus Neid und dem Wunsch, selbst eine führende Rolle im Königreich zu übernehmen, reiste er nach Jerusalem mit der klaren Absicht, Gedalja nach dem Leben zu trachten. Ihm nahe stehende Personen warnten Gedalja. Der jedoch vertraute auf Ismael und ignorierte die Warnungen.

Ismael kam zu Gedalja, speiste an dessen Tisch und tötete sein Opfer und alle anderen Anwesenden während der Mahlzeit. Außerdem versuchte er, Gedaljas Ruf über den Tod hinaus zu ruinieren, indem er behauptete, dass Gedalja alle diejenigen getötet habe, die wegen der Zerstörung des Tempels und Jerusalems trauerten.

Mord Nach dem Mord wandte sich das im Land verbliebene Volk an den Propheten Jeremia. Der teilte ihnen mit, der Ewige wünsche, dass sie an ihrem Ort im Königreich Juda bleiben sollen, also in Jerusalem. Doch das Volk, das sich vor König Nebukadnezar fürchtete, hörte nicht auf die Worte des Propheten und beschloss, nach Ägypten aufzubrechen. Der Entschluss, erneut nicht auf die Worte des Ewigen zu hören, beendete die jüdische Ansiedlung im Lande Israel in jener Ära.

Wie wir sehen, geht es bei dem Tod Gedaljas um einen politischen Mord mit schwersten Auswirkungen für die weitere Existenz des jüdischen Volks im Lande Israel und die aus Babylon zurückgekehrten Flüchtlinge.

Der Talmud misst den Folgen dieses Mordes noch mehr Gewicht bei. In der Gemara (Rosch Haschana 18) steht, dass der Grund, warum der Prophet Zacharia diesen Fastentag im selben Atemzug mit dem Datum Tischa beAw, dem Datum der Zerstörung des Tempels, erwähnt, nicht belanglos ist. »Dadurch lernst du, dass der Tod von Gerechten dem Verbrennen des Hauses des Ewigen gleichkommt.«

Reue Dieser Mord erhält dadurch eine doppelte Bedeutung, dass er gleich nach Rosch Haschana geschah. Gerade in diesen Tagen, in denen wir uns der Bedeutung des himmlischen Gerichts an Jom Kippur bewusst werden, müssen wir uns an diesen Vorfall erinnern. Wir sollen Reue üben wegen unlauterer Handlungen, die wir gegenüber G’tt begangen haben.

Doch in gleichem Maß müssen wir aufwachen und unser Verhalten gegenüber den Mitmenschen unter die Lupe nehmen. Vielleicht führt Neid wie der von Ismael ben Natanja, G’tt bewahre, dazu, dass wir als Volk keinen Frieden haben?

Gerade in der heutigen Zeit von Facebook und Twitter, in der die kleinsten Schritte eines jeden auf der ganzen Welt bekannt sind und freundschaftliche oder geschäftliche Beziehungen sich kinderleicht per Klick im Internet anbahnen, genau in dieser Zeit ist es wichtig, dass wir ein Bewusstsein für soziale und zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln.

In den Tagen zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur liegt Zom Gedalja – ein Fastentag, der uns daran erinnert, dass der Erfolg unserer Nation in erster Linie von unserer Fähigkeit abhängt, unser soziales Leben moralisch zu gestalten.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Groß-Dortmund.

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025

Chanukka

Das jüdische Licht

Die Tempelgeschichte verweist auf eine grundlegende Erkenntnis, ohne die unser Volk nicht überlebt hätte – ohne Wunder kein Judentum

von Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky  12.12.2025

Deutschland-Reise

Israels Oberrabbiner besucht Bremen

Kalman Meir Ber trifft Bürgermeister Andreas Bovenschulte und die Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft, Antje Grotheer (beide SPD)

 12.12.2025

Wajeschew

Ein weiter Weg

Das Leben Josefs verlief nicht geradlinig. Aber im Rückblick erkennt er den Plan des Ewigen

von Rabbinerin Yael Deusel  12.12.2025