Talmudisches

Das Sterben selbst bestimmen

Die jüdische Tradition kennt Erzählungen, die nicht verheimlichen, wie sich lebenssatte Menschen ihre Sterbewünsche erfüllten, ohne Hand an sich legen zu müssen. Foto: Alexandra Roth

Im Babylonischen Talmud wird im Traktat Sota (46b) von der Stadt Luz und ihren Bewohnern erzählt. Diese waren laut der Überlieferung unsterblich, denn die Stadtmauern und Tore von Luz waren für den Todesengel unüberwindbar: »Der Todesengel hatte keine Gewalt, durch die Straßen von Luz zu ziehen. Die Greise gingen, wenn ihnen das Leben zuwider war, hinaus vor die Tore der Stadt, um zu sterben.«

Die jüdische Tradition kennt etliche weitere Erzählungen, die von Lebenssattheit und Sterbewünschen hochbetagter Menschen berichten.

Fluch Für sie wurde das nicht enden wollende Leben schließlich zu einem Fluch, und sie erfüllten sich den Wunsch zu sterben selbst. Auch wenn sie bewusst handelten, um ihr Sterben herbeizuführen, dürfen wir ihnen das Verlassen der Stadt wohl nicht als Selbstmord vorwerfen. Überhaupt verstehen wir ihre zutiefst menschliche Motivation sehr gut und sprechen heute oft vom Verlust von Lebensqualität und möglicherweise auch Würde in schwerer Krankheit und hohem Alter.

Die jüdische Tradition kennt noch etliche weitere Erzählungen, die von Lebenssattheit und Sterbewünschen hochbetagter Menschen berichten. Sie verheimlichen auch nicht, wie Menschen sich ihre Sterbewünsche erfüllten, ohne Hand an sich legen zu müssen.

Rat Einem Midrasch zufolge soll Rabbi Jossi Ben Chalafta einer alten, lebenssatten Frau, die von ihm wissen wollte, wie sie ihr eigenes Sterben selbst herbeiführen könne, einen Rat gegeben haben. Er fragte sie, wie es ihrer Meinung nach kommen konnte, dass sie so lange am Leben geblieben und nicht schon längst gestorben war. Sie erklärte sich ihr langes Leben damit, dass sie von Kindheit an jeden Morgen in aller Frühe zum Beten in die Synagoge ging, ohne Ausnahme, egal was auch kam. Rabbi Jossi Ben Chalafta riet ihr, ab sofort nicht mehr in die Synagoge zu gehen. Sie befolgte seinen Rat, wurde krank und starb nach drei Tagen (Jalkut Schimoni, Ekew 871).

In beiden hier betrachteten Fällen finden Menschen im Aufgeben wesentlicher Elemente sozialen oder religiösen Lebens eine probate Möglichkeit, schneller aus dem Leben zu scheiden. Das Leben in der Stadt ist in erster Linie zwar keine lebenserhaltende Maßnahme, aber das Aufgeben dieses Teils sozialen Lebens fördert das Sterben. Genauso wie das Aufgeben des Betens in der Synagoge als religiöse und soziale Normalität.

Eine jüdische Beteiligung an der aktuellen Diskussion ist sehr wünschenswert.

Wir sollten uns an diese Narrative erinnern, wenn wir aus jüdischer Sicht die Diskussion um das Sterbefasten, oder, wie wir es korrekter nennen sollten: den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, verfolgen oder uns an ihr beteiligen.

Nahrung Auch die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit ist für den Menschen wesentlich und überlebensnotwendig. Trotzdem sind Essen und Trinken unbedingt auch als gesellschaftlicher Akt und als Genuss zu sehen, nicht aber als lebenserhaltende Maßnahmen im medizinischen Sinne.

In Fachkreisen findet derzeit eine intensive Debatte darüber statt, ob man den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit als ethisch eigenständige Handlungsentität darstellen muss und wie man in der Behandlungspraxis damit umgehen soll. Der Etikettierung des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit als Suizid wird aber aus ärztlichen und juristischen Fachkreisen nachdrücklich widersprochen.

Hunger Eine jüdische Beteiligung an der aktuellen Diskussion ist sehr wünschenswert, zumal die bisherige Diskussion schon viel Verunsicherung innerhalb der jüdischen Welt zur Folge hatte. Vor allem müssen wir den freiwilligen und bewussten Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit von der natürlichen Begleiterscheinung des Sterbens unterscheiden, dass nämlich Menschen in der Sterbephase in der Tat keinen Hunger und keinen Durst mehr verspüren. Sie dürfen wir weder zum Essen noch zum Trinken zwingen.

Denjenigen, die aus freien Stücken am Ende ihres Lebens nicht mehr essen und trinken wollen, obwohl sie es könnten, und die damit aber ein nur noch qualvolles Leben schneller zu einem friedlichen Ende bringen wollen, dürfen wir nicht vorwerfen, sie würden einen sanften Suizid begehen.

 Der Autor ist Palliativmediziner und Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld »Beit Tikwa«.

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