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Das Licht wird wiederkommen

Foto: Getty Images/iStockphoto

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Das Licht wird wiederkommen

Warum ausgerechnet die Heiligung des Neumonds die erste Mizwa der Tora ist

von Rabbiner Bryan Weisz  19.01.2024 09:23 Uhr

Nach dem Ersten Weltkrieg gründete die Lehrerin Sarah Schenirer (1883–1935) in Polen ein revolutionär neues Schulsystem für jüdische Mädchen: Bais Yaakov.

Eine ihrer Schülerinnen, Pearl Benisch (1917–2017), hat die Bewegung nach der Schoa wiederaufgebaut. Einmal, so erzählte Benisch, habe Sarah Schenirer ihren Schülerinnen am Beispiel einer Petroleumlampe erklärt, wie die Kraft des Lichts die Dunkelheit überwinde.

In einer Petroleumlampe wird Kerosin als Brennstoff verwendet. Es gibt einen Docht oder Mantel als Lichtquelle, der durch einen Glaskamin oder eine Glaskugel geschützt ist. Wenn man die Lampe das erste Mal anzündet, ist das Licht sehr hell, denn die Glaskugel erzeugt ein klares, schönes Licht, das heller zu leuchten scheint als andere Lichter. Mit der Zeit aber schwärzt das verbrennende Kerosin die Lampe, und obwohl diese weiterhin das gleiche Licht aussendet wie zuvor, wird es von der geschwärzten Kugel gedämpft, und bald scheint es, als gebe sie überhaupt kein Licht. Schaut man aber genauer hin, kann man hinter dem dunklen Glas ein schwaches Licht flackern sehen.

Sarah Schenirer verglich diese Lampe mit den Menschen: In jedem sei ein Licht, wir lebten jedoch unter Umständen, in denen das Glas im Laufe der Zeit immer dunkler werde. Es liegt also allein an uns, den Glaskamin abzunehmen, zu reinigen und zu sehen, wie großartig das Licht danach wieder leuchten wird.

In der Geschichte vom Auszug aus Ägypten lesen wir davon, wie die Kinder Israels in enormer Not und Dunkelheit lebten, aber die allererste Mizwa nutzten, dass sie ihnen unter diesen schwierigen Umständen Licht und Optimismus schenke.

Weil der Nissan der Monat ist, in dem das jüdische Volk seine Freiheit erlangte, wurde er zum ersten Monat

Das allererste Gebot der Tora, das dem jüdischen Volk gegeben wurde, lautet: »Dieser Monat wird für dich der erste der Monate sein, der erste für dich unter den Monaten des Jahres.« Dies war der Nissan, weil dies der Monat ist, in dem das jüdische Volk seine Freiheit erlangte und zu einer Nation wurde.

Warum aber wird wiederholt, dass der Nissan der erste Monat des Jahres ist? Reicht es nicht, dies nur einmal zu sagen?

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) nennt die Gründe für die Doppelung. Er erklärt, dass das hebräische Wort für Monat – Chodesch – dieselben Buchstaben enthält wie »Chiddusch«, Erneuerung. Der Chiddusch – die Erneuerung des Mondes, der Neumond – soll ein Fest am Ersten eines jeden Monats sein. Dies ist mit dem ersten Teil des Satzes gemeint, wenn es heißt: »Hachodesch haseh« – diesen Monat.

Der erste Teil des Satzes erzählt uns nicht nur, dass der Nissan der erste Monat des Kalenders sein sollte, sondern er berichtet uns auch vom allerersten Fest Israels: dem Rosch Chodesch, dem Monatsanfang. Der zweite Teil des Satzes, »der erste unter den Monaten des Jahres« bezieht sich auf den Nissan. An jenem allerersten Nissan begannen die Kinder Israels, die Monate des Jahres zu zählen.

Was ist das Besondere an Rosch Chodesch? Die Tora lehrt, dass das allererste Gebot, das wir befolgen müssen, darin besteht, jeden Monat die Wiederkehr des Mondlichts zu markieren und zu feiern.

Das Licht des neuen Mondes und der Segen, den wir ihm geben, sollen das jüdische Volk charakterisieren

Jeden Monat schwindet der Mond so stark, dass er am Ende des Monats nicht mehr zu sehen ist und der Himmel völlig dunkel scheint. Ein schwarzer und trostloser Ort ohne Optimismus und Glück – fast so, als wäre die Welt untergegangen, eine Zeit ohne Hoffnung auf die Zukunft.
Doch wir sehen, dass jeden Monat aus dieser gewaltigen Dunkelheit immer wieder Licht hervorgeht. Dieses Licht muss geheiligt und gesegnet werden. Dieses Licht und der Segen, den wir ihm geben, sollen das jüdische Volk charakterisieren.

Die Erneuerung des Mondes und die Fähigkeit der Natur, der Menschheit und des Individuums, sich selbst zu erneuern, sind einer der wichtigsten Glaubenssätze des Judentums.

Viele andere Mizwot hätten als allererste in der Tora erwähnt werden können. Doch es wurde die Segnung des allerersten Lichtstrahls des Neumonds und die damit verbundene Feier von Rosch Chodesch ausgewählt. Warum?

Aus der Mitte der Dunkelheit kommt jeden Monat das Licht der Erneuerung und der Wiedergeburt eines Neumonds. Wir sollen dies zur Kenntnis nehmen und auch in den düstersten Zeiten die Hoffnung darauf, dass das Licht kommen wird, nicht aufgeben.

Der Monat Nissan markiert die Jahreszeit, in der das jüdische Volk seine Freiheit aus der Sklaverei Ägyptens erlangte. Deshalb wurde er als allererster Monat ausgewählt, ab dem wir zählen. Wenn wir jedoch unsere Kämpfe und Hindernisse kontinuierlich überwinden wollen, müssen wir uns daran erinnern, dass aus der Mitte der großen Dunkelheit Licht und Hoffnung für die Zukunft hervorgehen.

Optimismus statt Verzweiflung – das ist die zentrale Lehre

Optimismus statt Verzweiflung – das ist auch die zentrale Lehre, die Sarah Schenirer ihren frühen Bais-Yaakov-Schülerinnen beigebracht hat. Viele von ihnen kamen in der Schoa ums Leben. Doch jenen, die überlebten, half der kleine Lichtstrahl, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass es irgendwann eine bessere Zeit geben wird.
Sie haben überlebt und machten das Bais-Yaakov-Schulsystem zu einer blühen­den Bewegung, die heute an Schulen in der ganzen Welt ein größeres Licht ausstrahlt als je zuvor.

Obwohl die Welt manchmal voller Verzweiflung und Dunkelheit ist, werden wir jeden Monat an Rosch Chodesch daran erinnert, dass nach der Dunkelheit das Licht wiederkommt. In unserem ersten Exil wurden wir mit der Mizwa daran erinnert, um dieses monatliche Licht der Hoffnung und des Optimismus zu heiligen. Es ist eine Erinnerung daran, dass die Dinge mit der Zeit besser werden und wir die Hoffnung nicht verlieren dürfen.

In entscheidenden Momenten unserer Geschichte fand der Prozess der Erneuerung und des Lichts unmittelbar nach der Dunkelheit und der Zerstörung statt. Wir sehen dies in der Wiedergeburt von Bais Yaakov, nachdem Überlebende wie Pearl Benisch aus Auschwitz und Bergen-Belsen zurückgekehrt sind.

Das jüdische Volk ist in der Lage, sich aus der Vergessenheit zu erheben und vergangene Größe wiederzuerlangen. So wie der Mond am Ende eines jeden Monats verschwindet, aber danach zurückkehrt und zu ganzer Fülle heranwächst, so erneuert sich auch das jüdische Volk. Der Staat Israel wurde nach der Schoa gegründet. Er ist der erste Lichtblick nach der Verwüstung des europäischen Judentums. Wir sind ein Volk, das niemals verzweifelt, denn wir wissen, dass selbst in unserer dunkelsten Stunde das Licht unserer Erlösung leuchtet.

Der Autor ist Rabbiner in London.

inhalt
Der Wochenabschnitt Bo schildert die letzten Plagen, mit denen G’tt die Ägypter heimsucht: Das sind zunächst Heuschrecken und Dunkelheit, dann kündigen Mosche und Aharon die Tötung aller ägyptischen Erstgeborenen an. Doch das Herz des Pharaos bleibt weiter hart. Die Tora schildert die Vorbereitungen für das Pessachfest und beschreibt dann die letzte Plage: Alle Erstgeborenen Ägyptens sterben, doch die Kinder Israels bleiben verschont. Nun endlich lässt der Pharao die Israeliten ziehen. Zum Abschluss schildert der Wochenabschnitt erneut die Vorschriften für Pessach und die Pflicht zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.
2. Buch Mose 10,1 – 13,16

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