Jitro

Das Licht weitertragen

Gemeinsam das Licht tragen – Symbol des Zusammenhalts Foto: Clara Wischnewski vie KI

Der Toraabschnitt, den wir an diesem Schabbat lesen, erzählt das zentrale Ereignis der gʼttlichen Offenbarung am Berg Sinai, an dem das ganze Volk Israel Anteil hatte. Bevor Mosche auf den Berg steigt, befiehlt Haschem ihm, das Volk davon abzuhalten, den Berg zu betreten: »Ziehe Schranken für das Volk ringsum« (2. Buch Mose 19,12).

Allgemein wird dieser Vers als Anordnung verstanden, Abgrenzungen für das Volk aufzustellen, um sicherzugehen, dass es sich dem Berg Sinai nicht zu stark nähert und ihn womöglich berührt. Eine Übertretung dessen würde zum Tod führen. Denn das große Licht der gʼttlichen Offenbarung ist für den gemeinen Menschen unerträglich, so wie das Auge auch nicht direkt in die Sonne blicken kann. Nur Mosche Rabbeinu konnte im Angesicht dieses Lichts bestehen.

Mehr Raum zur Interpretation

Es ist also verständlich, dass eine Abgrenzung absolut nötig war. Wie jedoch diese Abgrenzung genau gebildet wurde und wo diese etwa verlief, dafür gab es für unsere Weisen mehr Raum zur Interpretation.

Der Meschech Chochma, Rabbiner Meir Simcha von Dvinsk (1843–1926), erklärt unseren Vers auf verblüffende Art. Er erläutert, dass das Volk Israel selbst die Absperrung zwischen der gʼttlichen Offenbarung am Berg und der Außenwelt bildete und keine Pfeiler und Zäune dafür gebaut wurden.

Diese Einsicht gewinnt er aus einer alternativen Lesart des oben genannten Verses. Im hebräischen Text steht vor den Worten »das Volk« das kleine Wort »et«. Es ist eine Art Akkusativ-Bestimmung und kennzeichnet das darauffolgende Wort als Objekt. Dieses Wort kann manchmal auch als »mit« übersetzt werden. Folglich kann der Vers auch so gelesen werden, dass das Volk Israel nicht mehr allein die Gruppe ist, für welche die Absperrung erstellt werden soll, sondern vielmehr das Subjekt ist, durch das diese Abgrenzung erfolgt. Und so liest der Meschech Chochma den Vers also nicht als: »Umgrenze das Volk ringsum (den Berg Sinai)«, sondern als: »Umgrenze mit dem Volk ringsum (den Berg Sinai).«

Räumliche Anordnung der Offenbarung

Weiter erklärt Rabbi Meir Simcha, dass die räumliche Anordnung der Offenbarung am Berg Sinai jenen des Mischkan, der Stiftshütte, und des Tempels entsprachen. Beide, der Mischkan und der Tempel, hatten in ihrem Zentrum den Heichal, die Tempelhalle, in dem sich das Allerheiligste befand. Sie wurde vom Vorhof umschlossen, den wiederum Trennwände nach außen hin absonderten.

So war es auch am Berg Sinai. Der Berg selbst war das Epizentrum der gʼttlichen Offenbarung und der davon ausgehenden Heiligkeit und gleicht somit dem Heichal. Der unmittelbare Bereich um den Berg herum lässt sich mit dem Vorhof des Tempels vergleichen.

Rabbi Meir Simcha führt diese Parallele von Mischkan – Tempel und der Anordnung am Berg Sinai weiter und hält fest, dass die Bnei Jisrael, die Kinder Israels, selbst die besagte Trennwand bildeten und demzufolge Teil dieses ersten Mischkans waren. Und so heißt es auch beim späteren Gebot des Tempelbaus: »Sie sollen mir ein Heiligtum schaffen, so werde ich unter ihnen wohnen« (2. Buch Mose 25,8).

Der Berg Sinai verlor nach der Übergabe der Tora seine Heiligkeit

In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Faktor besonders wichtig. Wann immer der Mischkan an einem anderen Ort neu aufgebaut wurde, verlor der frühere Platz, an dem er stand, seine Heiligkeit. Die Bestandteile des mobilen Heiligtums behielten jedoch ihre Heiligkeit bei, auch während der Verlegung, als es im auseinandergenommenen Zustand transportiert wurde.

So ist es erstaunlicherweise auch mit dem Berg Sinai, dem Ort der gʼttlichen Offenbarung, an dem uns die Tora gegeben wurde, an dem das ganze Volk zitternd himmlische Stimmen und Klänge sah und Zeuge dieser einzigartigen gʼttlichen Offenbarung wurde. Dieser Ort verlor nach der Übergabe der Zehn Gebote seine Heiligkeit und durfte gleich wieder bestiegen werden (2. Buch Mose 19,13). Im Gegensatz dazu behielten jedoch die Bnei Jisrael so wie die Einzelteile des Mischkans ihre Heiligkeit bei, auch als sie den Sinai verließen.

»An jedem Ort, an dem die Kinder Israels exiliert wurden, war die ›Schechina‹, die Gʼttlichkeit, mit ihnen«, schreibt der Talmud (Megilla 29a)

Wir lesen im Talmud: »An jedem Ort, an dem die Kinder Israels exiliert wurden, war die ›Schechina‹, die Gʼttlichkeit, mit ihnen« (Megilla 29a). Diese Einsichten erinnern uns an die Bedeutung jedes noch so kleinen Bestandteils eines Ganzen. Heute, während das Volk Israel noch zerstreut ist und wir uns weiterhin größtenteils in der Diaspora befinden, sind wir uns dennoch der großen Kraft und Besonderheit, die jedem einzelnen Teil des Volkes innewohnt, bewusst. Es verhält sich genauso wie mit den verschiedenen Teilen des Mischkans, die auch im abgebauten Zustand ihre Heiligkeit beibehielten.

Und wir können hinzufügen, dass jeder Bestandteil, soweit in der Peripherie er sich auch befinden mag, sich nicht vom Ganzen isolieren kann, ja sich eben nicht als eigenständiges, losgelöstes Element sehen kann. Ganz gleich, ob praktizierend oder nicht, arm oder wohlhabend, reich oder arm an Wissen – jeder Einzelne ist Teil des geheiligten Ganzen und unterliegt der ehrenvollen Verantwortung, das Licht der Tora weiterzutragen und zu stärken. Die Kerzen, die dieses Licht tragen, sind die Mizwot, die Gebote, die unsere Wege lenken und unser Wirken in dieser Welt bestimmen.

Und ebendiese Bedeutung jedes einzelnen Teils spiegelt sich in der alltäglichen Ausübung des Judentums wider, im Gebet. Eine Gruppe von neun Betenden, mögen es auch die größten und weisesten Rabbiner sein, kann keinen Minjan bilden. Es braucht dazu bloß einen gerade 13 Jahre alt gewordenen Jungen, der bereits seine Barmizwa hatte. Er vervollständigt diese Gruppe für einen Minjan.

Wenn eine Tora geschrieben wird und auch nur ein einzelner Buchstabe fehlt, dann ist die ganze Tora ungültig. Auch hier zählt jeder einzelne Teil. Dessen sollten wir uns immer bewusst sein: Jeder einzelne Jude, jeder von uns, ist bedeutend für das Ganze.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Im Wochenabschnitt Jitro stellt die Tora Mosches Schwiegervater, den midjanitischen Priester Jitro, als religiösen und weisen Menschen dar. Er rät Mosche, Richter zu ernennen, um das Volk besser zu führen. Die Kinder Israels lagern am Fuß des Berges Sinai und müssen sich drei Tage lang vorbereiten. Dann senkt sich Gʼttes Gegenwart über die Spitze des Berges, und Mosche steigt hinauf, um die Tora zu empfangen.
2. Buch Mose 18,1 – 20,23

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