Wajeschew

Das Leben feiern

Josef lehrt uns, dass jeder Mensch es verdient, glücklich zu sein und an allen Tagen zu tanzen. Foto: Getty Images

Im Alter von 17 Jahren wird Josef von seinen Brüdern entführt und in eine Grube geworfen. Später holen sie ihn wieder heraus und verkaufen ihn als Sklaven. In der Heimat seines neuen Herrn in Ägypten wird er der versuchten Vergewaltigung beschuldigt und ins Gefängnis geworfen. Dort trifft er auf den obersten Mundschenk und den obersten Bäcker des Pharaos, die sich gegen den Monarchen versündigt haben und deshalb im Gefängnis sitzen.

Beide haben einen Traum. Und als Josef am Morgen zu ihnen kommt, sieht er, dass sie sehr bedrückt sind. Er fragt: »Warum sind eure Gesichter heute so traurig?« Sie antworten: »Wir haben geträumt und können es nicht deuten.« Josef sagt zu ihnen: »Ist die Deutung nicht Sache G’ttes? Erzählt mir die Träume!« Und Josef erklärt ihnen, was ihre Träume bedeuten.

deutung Zwei Jahre später hat der Pharao einen Traum. Auf der Suche nach einer Deutung empfiehlt sein oberster Mundschenk, der inzwischen aus dem Gefängnis entlassen wurde, Josef zu holen. Dieser deutet die Träume als Vorhersage, dass auf sieben Jahre des Überflusses sieben Jahre der Hungersnot folgen werden. Es muss ein System eingerichtet werden, um die Lebensmittel aus den Jahren des Überflusses zu lagern und das Land während der folgenden Hungersnot zu versorgen. Der Pharao ernennt den hebräischen Gefangenen zum Premierminister und beauftragt ihn mit der Vorbereitung auf die Hungersnot.

Josefs Vorbereitungen erweisen sich als erfolgreich. Er entwirft ein geniales Verteilungssystem. Es gelingt ihm, die gesamte Bevölkerung während einer verheerenden Hungersnot zu retten. Letztendlich wird auch seine eigene Familie dank seiner Weisheit und Führung vor dem Hungertod bewahrt.

Die Geschichte wirft eine Reihe von Fragen auf. Josef bemerkt, dass die beiden Diener des Pharaos, sein oberster Mundschenk und sein Bäcker, traurig aussehen. Er fragt sie, warum. Das scheint eine seltsame Frage zu sein. Warum sollten sie nicht traurig sein, wo sie doch im Gefängnis sitzen? Vor allem, wenn wir bedenken, dass sie höchste Positionen in der ägyptischen Gesellschaft innehatten und jetzt hilflose Gefangene sind.

schmerz Die andere Frage bezieht sich auf Josef: Die Geschichte erweckt den Eindruck, dass er ein glücklicher junger Mann war. Aber halt! Wenn jemand das Recht hatte, traurig zu sein, dann war es Josef. Wir wissen, dass er ein Leben voller Schmerz und Missbrauch führte. Als er acht Jahre alt war, starb seine Mutter. Später, als Jugendlicher, verkauften ihn seine Brüder nach Ägypten in die Sklaverei. Dort angekommen, kam er als Sklave ins Haus eines ägyptischen Offiziers.

Der Midrasch berichtet, wie Josef auf dem Weg von Israel nach Ägypten weinte und die Sklavenhändler ihn auspeitschten. Als sie an Bethlehem vorbeikamen, wo seine Mutter Rachel neun Jahre zuvor begraben worden war, warf sich Josef auf deren Grab. »Mutter, Mutter«, weinte er, »warum hast du mich verlassen? Mutter, Mutter, sieh meinen Schmerz!«

In Ägypten wurde er beschuldigt, er habe versucht, die Frau seines Herrn zu vergewaltigen, und man verurteilt ihn zu zwölf Jahren Gefängnis. Man kann sich vorstellen, wie viel Verbitterung ein solcher Mensch in seinem Herzen tragen würde.

glück Doch er verlor sein Gefühl für Glück und Freude nicht. Er sah in jeder Erfahrung einen Sinn und nutzte sie als Gelegenheit, um zu wachsen und G’tt, der Wahrheit, näherzukommen. Bei der Freude ging es darum, G’tt in jedem Augenblick und in jeder Erfahrung zu finden und so zu erkennen, dass dies Teil der Reise und der Lebensaufgabe ist. Josef lehrte die Menschheit, wie man aus gebrochenen Akkorden Musik machen kann.

Aber es ging noch viel weiter. Als Josef zwei Menschen, zwei Schöpfungen G’ttes, in einem Zustand der Traurigkeit sah, beunruhigte ihn das. Er fühlte sich veranlasst zu fragen, was sie bedrückt. Zwei Menschen in ihrem Elend zu sehen, war für ihn unerträglich. Also fragte er sie, warum sie deprimiert waren. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir von uns selbst fast erwarten, unglücklich zu sein. Wenn wir bemerken, dass jemand zu glücklich ist, fragen wir uns: Was nimmt denn dieser Typ?

Doch Josef lehrt uns einen anderen Ansatz: Glück ist unser natürlicher Zustand im Leben. Jeder Mensch verdient es, glücklich zu sein, sein Leben zu feiern, an allen Tagen zu tanzen!

Kinder Schauen Sie sich nur Kinder an, und Sie werden sehen, wie glücklich sie von Natur aus sind. Unglücklich sein ist eine Verzerrung der Menschheit; wir sollen glücklich sein. Wir wurden von G’tt mit einem Sinn erschaffen, und das muss uns tiefes Glück bescheren. Selbst in einem Gefängnis, glaubt Josef, müssen wir glücklich sein. Wir müssen in jeder Situation unsere g’ttliche Bestimmung finden.

Wenn eine Zeitschrift beschließen würde, Josef zur »Person des Jahres« zu küren, würde sie wohl analysieren, wie er die höchste Position im Land nach dem Pharao erreicht hat. Wie wurde ein Sklave, der wegen des Vorwurfs der versuchten Vergewaltigung inhaftiert war, zur mächtigsten Person im Land? Sie würden über seine Fähigkeiten bei der Traumdeutung sprechen, die ihn in diese Position gebracht haben. Doch sie würden die Geschichte nicht wirklich verstehen!

In der Tora lesen wir eine andere Geschichte. Und das macht die Tora – ein g’ttliches Handbuch für das Leben – aus. Hier war die Ursache dafür, dass Josef Premier der damaligen Supermacht wurde und die Welt vor einer Hungersnot rettete, ein einziges »Guten Morgen«, das er zwei Fremden zukommen ließ. Das ist Geschichte aus biblischer Sicht. Sie wird nicht von Präsidenten, Politikern oder Männern mit großem Reichtum geschrieben. Vielmehr ist es die Geschichte eines einzelnen Menschen, der eine einzige moralische Handlung in einem einzigen Moment ohne Öffentlichkeit vollbringt, die die Zukunft unserer Welt bestimmt.

geste Wenn Sie jemanden an einer Straßenecke treffen und er oder sie sieht niedergeschlagen aus, fragen Sie aufrichtig: »Warum sind Sie unglücklich? Was ist in Ihrem Leben los?« Sie mögen das für eine einfache nette Geste halten; doch die Tora betrachtet es als eine Tat, die die Welt verändern kann!

»Freundlichkeit ist wichtiger als Weisheit, und dies zu erkennen, ist der Beginn der Weisheit«, sagte ein weiser und freundlicher Mann. Versuchen Sie also an jedem Tag Ihres Lebens, selbst wenn Sie sich niedergeschlagen fühlen, Josef nachzueifern. Nehmen Sie sich 25 Sekunden Zeit, gehen Sie auf eine Person zu und fragen Sie sie aufrichtig: »Wie geht es Ihnen?«, »Bist du glücklich?« oder »Wie kann ich Ihnen helfen?«. Es kann Ihr Ehepartner sein, Ihr Kind, Ihre Mutter, jemand im Büro, ein Freund oder ein Fremder auf der Straße, ein Obdachloser. Jeden Tag nur ein aufrichtiges und echtes »Guten Morgen«. Sie werden die Welt verändern und Leben retten.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajeschew erzählt, dass Josef davon träumt, wie seine Brüder sich vor ihm verneigen. Eines Tages schickt Jakow Josef zu den Brüdern hinaus auf die Weide. Die Brüder verkaufen ihn in die Sklaverei nach Ägypten. Dort steigt Josef auf. Doch nachdem ihn die Frau seines Herrn der Vergewaltigung beschuldigt hat, wird Josef ins Gefängnis geworfen. Dort lernt er den königlichen Obermundschenk sowie den Oberbackmeister des Pharaos kennen und deutet ihre Träume.
1. Buch Mose 37,1 – 40,23

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024